Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Abends, im Gästehaus auf den Leninhügeln, erzählte uns Willy Brandt, wo es bei den letzten Unterredungen vor der Vertragsunterzeichnung hakte: Manchmal sei er sich mit Breschnew bereits einig gewesen, dann aber habe Außenminister Gromyko eingegriffen und mit Hinweisen auf Verträge und Klauseln erklärt, Breschnew könne in einer bestimmten Frage dem deutschen Formulierungsvorschlag nicht zustimmen. Schließlich waren aber auch diese letzten Hürden beseitigt. Das Abkommen schrieb im Wesentlichen einen gegenseitigen Gewaltverzicht, die Wahrung der territorialen Integrität und die Unverletzlichkeit der Grenzen fest. Zusätzlich übergab Außenminister Scheel einen »Brief zur deutschen Einheit«, in dem festgehalten wurde, dass eine deutsche Wiedervereinigung nicht im Widerspruch zu den Vereinbarungen des Vertrages stünde.
Während wir Journalisten vor der Vertragsunterzeichnung auf die Ergebnisse der abschließenden Gespräche warteten, kamen manche unserer sowjetischen Kollegen mit ungewohnt großer Offenheit auf uns zu. Dabei merkten wir, dass besonders diejenigen, die in ihrer Arbeit eng mit der DDR verbunden gewesen waren, einer Annäherung zwischen Bonn und Moskau misstrauten. Bei ihnen war ein nie offen ausgesprochener und doch zäher Widerstand zu spüren. Sie fürchteten offenbar, der Vertrag könne den zweiten deutschen Staat aushöhlen und die ostdeutschen Kommunisten in ihrem Selbstverständnis verunsichern. Wie stark sich die Gegner einer engeren Bindung zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion fühlten, gab uns in diesen Tagen der Chef des sowjetischen Fernsehens und Rundfunks, Sergej Lapin, zu verstehen. Er war ein alter Apparatschik, ein eisenharter Funktionär. Anfang der fünfziger Jahre hatte er an der Botschaft in der DDR gearbeitet. Später war er Erster Parteisekretär im Außenministerium gewesen und hatte danach die staatliche Nachrichtenagentur TASS geleitet. Wenige Wochen vor dem Brandt-Besuch war er zum Vorsitzenden des Staatskomitees für Rundfunk und Fernsehen aufgestiegen, der wichtigsten Propagandaeinrichtung der KPDSU . Nun waren wir auf ihn und seinen Apparat angewiesen, wenn wir unsere Zuschauer in Deutschland über die Ergebnisse in Moskau informieren wollten.
Der Leiter des Bundespresseamts und frühere Chefredakteur des Spiegel , Conrad Ahlers, hatte dem Moskauer ARD -Korrespondenten Lothar Loewe und mir den Wunsch des Bundeskanzlers übermittelt, am Tage der Vertragsunterzeichnung im Fernsehen zu den Deutschen zu sprechen. Die ARD verfügte in Moskau aber nur über ein kleines Büro ohne eigene Übertragungsmöglichkeiten. Mehr erlaubten die sowjetischen Behörden ausländischen Korrespondenten grundsätzlich nicht, und so war unsere Berichterstattung in technischer Hinsicht vollkommen vom sowjetischen Fernsehen abhängig. Folglich ließ sich eine Rede des deutschen Bundeskanzlers nur mit der Hilfe des Staatskomitees für Rundfunk und Fernsehen nach Deutschland übermitteln. Wir wandten uns daher an die Abteilung für Auslandsbeziehungen beim Sowjetfernsehen und erhielten nach einigen Stunden telefonisch eine Absage, ohne jede Begründung. Fernsehfunktionäre, mit denen wir offiziell Kontakt haben durften, sahen keinen Spielraum für Verhandlungen, und noch am Abend vor der Unterzeichnung erklärten sie es für völlig ausgeschlossen, dass eine Ansprache des Bundeskanzlers nach Deutschland übertragen werden könnte. Sergej Lapin zog sich auf die Position zurück, dass die Frage der Übertragungstechnik nicht Sache des Fernsehens sei. Ein sowjetischer Kollege gab uns schließlich vorsichtig zu verstehen, Lapin habe durchaus die Möglichkeit, eine Übertragung zu verhindern, so dass die Genehmigung am Ende von Breschnew persönlich kommen müsste.
Aber wo und wie sollten wir als Ausländer eine solche Genehmigung einholen, wenn Breschnew und Brandt im Kreml verhandelten? Für ausländische Diplomaten und Journalisten war jeder Zugang durch die großen Mauern und Tore versperrt. Wir standen vor dem Kreml am Borowizki-Tor und stellten mit Hilfe der deutschen Botschaft eine Verbindung zu Conrad Ahlers her, der in Breschnews Vorzimmer wartete. Allerdings konnte Ahlers mit uns nur außerhalb der Kremlmauern telefonieren. Es war ein langer Weg für ihn durch den Kreml und zurück, und schließlich musste er fast seine Ellenbogen gebrauchen, um wieder bis zum Arbeitszimmer vorzudringen, in dem Brandt und Breschnew noch immer miteinander sprachen. Der sowjetische Parteichef
Weitere Kostenlose Bücher