Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
ehe Gegner und Kritiker von ihnen erfahren konnten. Fast zwanzig Jahre lang hatte sich dieses System entwickelt, das Adenauer vervollkommnet hatte und das viele zu imitieren versuchten. Ende der sechziger Jahre aber zeigte es Risse, als in den Parteien eine neue Generation auftrat, die sich den alten Gewohnheiten und Denkmustern nicht einfach unterordnete.
Das Studiogebäude der ARD hatte im Bonner Regierungsviertel einen strategisch günstigen Standort. Es lag in der Mitte zwischen dem Bundestag mit dem Plenarsaal und den Fraktionssälen, den Arbeitsräumen und den Wohnungen der Abgeordneten, dem Bundespresseamt, dem Bundeskanzleramt und dem Sitz des Bundespräsidenten. Da saßen wir nun im Zentrum des von Gerüchten und Informationen brummenden Bienenkorbs. Auf dem Weg von einer Sitzung zur anderen machten Politiker manchmal einen kleinen Umweg und schauten auf ein kurzes Gespräch oder eine Tasse Kaffee bei uns vorbei. Nach abendlichen Aufzeichnungen oder Livesendungen kamen manche von ihnen auf einen Whiskey in mein Büro, und wenn es spät wurde, machte unsere Sekretärin auch mal einen Teller Suppe warm. Besonders jüngere Politiker – Abgeordnete oder auch Kabinettsmitglieder – blieben mitunter lange sitzen. Sie hatten Vertrauen genug, um offen über schwierige Themen zu sprechen. Einige Male war auch der Bundeskanzler ein später Gast, ebenso der Vorsitzende der SPD -Fraktion Herbert Wehner, der große alte Mann der Sozialdemokratie. Bei einem Besuch erzählte er bis spät in die Nacht von seiner Emigrationszeit in den dreißiger Jahren, von der Angst vor Verhaftungen im Moskauer Hotel Lux oder auch von noch früheren Wanderungen im Thüringer Wald. Er blieb so lange, bis seine Stieftochter (und spätere Frau) sich gegen zwei Uhr morgens neben seinem Sessel aufstellte und so lange stehenblieb, bis Wehner mit ihr nach Hause ging.
In den Tagen kurz vor der Abstimmung über das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im Frühjahr 1972 saß ein jüngerer CDU -Abgeordneter bei mir im Büro. Er war ganz erschrocken, als sich die Tür öffnete und Franz Josef Strauß, der CSU -Chef, ihn vorwurfsvoll begrüßte: »Sie hier? Sie essen Suppe bei der ARD ?« Der Abgeordnete verabschiedete sich schnell, Strauß hingegen blieb, aß selbst einen Teller und beantwortete eine Frage, die uns damals alle beschäftigte. Ob er den CDU -Fraktionschef Rainer Barzel, der mit dem Misstrauensvotum auf die Kanzlerschaft zustrebte, ins rostige Messer laufen lassen würde. Die Antwort kam knochentrocken: »Mein Messer ist nie rostig.« Öffentlich hatte Strauß immer wieder erklärt, er unterstütze Barzel und habe keinerlei Absicht, ihn als Kanzlerkandidaten zu ersetzen. In solchen Fällen lohnte sich das Gespräch: Eine knappe Andeutung des Hauptbeteiligten war mehr wert als die vielen Gerüchte, die uns sonst zugetragen wurden.
Unserem Studiogebäude in Bonn haftete etwas angenehm Unfertiges, Improvisiertes an. Es war seit den ersten Tagen der Bundesrepublik in Betrieb und seither ständig umgebaut worden. Mein Vorgänger Günter Müggenburg war von Anfang an ein Teil des Bonner Milieus gewesen, mit unzähligen Verbindungen und Beziehungen, mit allen bekannt, mit vielen befreundet und nicht im Verdacht parteipolitischer Einseitigkeit. Dasselbe galt auch für die drei Kollegen Friedrich Nowottny, Ernst Dieter Lueg und Klaus Altmann, mit denen ich nach seinem Weggang in der Redaktion zusammenarbeitete. Jeder hatte Bekannte in Ministerien und Fraktionen, aber wir verfügten über so unterschiedliche Kontakte und Quellen, dass man uns keine einseitige Festlegung vorwerfen konnte. Die parteipolitischen Schlachten wurden in den Rundfunkräten der ARD -Anstalten geschlagen und dann vom Intendanten des WDR , dem das Bonner Studio unterstand, fast immer ohne Druck an uns Hauptstadt-Korrespondenten weitergemeldet. Die dreißig Kilometer Entfernung zwischen dem Funkhaus in Köln und dem Studio in Bonn waren meist ein angenehmer Filter in der Kommunikation.
Zunächst schien es so, als erreichten technische Neuerungen das Bonner Studio stets mit Verspätung, dann jedoch konnten auf dem »kleinen Dienstweg« größere Veränderungen ausgehandelt werden. Bei einem seiner seltenen Besuche im Studio gratulierte uns der WDR -Verwaltungsdirektor dazu, dass auch wir nun ein eigenes Kamerateam hätten. Tatsächlich standen uns inzwischen auch ein voll ausgerüstetes Studio und ein Schneideraum zur Verfügung. Die hatten Kollegen aus der technischen
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