Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Fernsehtechniker beim NDR ließen sich durch die unbekannte Kennung »Presseagentur Novosti« nicht verwirren. Sie zeichneten die Überspielung aus Moskau auf und sendeten sie. Ich erzählte diese Geschichte einem sowjetischen Kollegen, den ich ein wenig näher kannte, und fragte, wie diese unfreundliche Behandlung durch die Fernsehleute zu erklären sei. »Lapin«, sagte er, »ist einer von den Offizieren des Zweiten Weltkriegs, die nicht verzeihen können, dass die Sowjetarmee nur bis zur Elbe und nicht bis zum Rhein gekommen ist.« Es gebe eben so manchen in der Parteiführung, der lieber eine harte Linie weiterfahren würde. Lapin blieb der Herrscher über Rundfunk und Fernsehen in der Sowjetunion, bis ihn Michail Gorbatschow fünfzehn Jahre später in Pension schickte.
Die Unterzeichnung des Moskauer Vertrags markierte keineswegs das Ende der Auseinandersetzung um die deutsche Ostpolitik, sondern stand am Beginn einer besonders harten Phase des innenpolitischen Kampfes in Bonn. CDU und CSU warfen Brandt und Scheel vor, mit diesem Vertragsabschluss deutsche Interessen verraten zu haben. Dem Gewaltverzicht auf dem Papier stehe ein Schießbefehl in der Wirklichkeit gegenüber, erklärte CDU -Fraktionschef Rainer Barzel. Wenn die Sowjetunion nicht in Grundsatzfragen nachgebe, was die Selbstbestimmung und die Einheit Deutschlands sowie einen Verzicht auf Reparationsforderungen angehe, dann sei Moskau den deutschen Interessen eben keinen Schritt entgegengekommen. Hinter der Kritik stand unausgesprochen die Überzeugung, mit kommunistischen Ländern dürfe nicht verhandelt werden. Genau das jedoch betrieb die Regierung Brandt intensiv weiter: Seit Februar 1970 waren auch in Warschau Gespräche aufgenommen worden, die schließlich im Dezember 1970 zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags führten. Wie schon im Moskauer Vertrag verpflichteten sich die Unterzeichner zu Gewaltverzicht und Achtung ihrer territorialen Integrität. Außerdem wurde die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens faktisch festgeschrieben.
Es sollte nach dem Besuch Willy Brandts in der sowjetischen Hauptstadt fast zwei Jahre dauern, bis die Verträge von Moskau und Warschau im Mai 1972 im Bundestag ratifiziert werden konnten. Im Vorfeld war es jedoch keineswegs sicher gewesen, dass die Regierungskoalition die erforderliche Mehrheit für die Abstimmung über die Ostverträge zusammenbringen könnte. Vor diesem Hintergrund hatte Rainer Barzel am 27. April im Bundestag die Machtfrage gestellt. Nachdem mehrere Abgeordnete aus dem Regierungslager zur Opposition übergewechselt waren und weil vermutet wurde, dass manche Abgeordnete aus der Regierungskoalition die Ratifizierung ablehnten, schien das konstruktive Misstrauensvotum gegen den Bundeskanzler durchaus eine Erfolgschance zu haben. Barzel erhielt am Ende jedoch nur 247 von 249 erforderlichen Stimmen. Damit herrschte im Bundestag eine Pattsituation, die eine Zusammenarbeit in der Ratifizierungsfrage erforderlich machte. Parallel zu den Verhandlungen in Bonn liefen Gespräche mit Moskau, um mit Modifikationen den Gegnern der Verträge entgegenkommen zu können. Schließlich konnten sich Opposition und Regierung auf einen Kompromiss einigen: In einer gemeinsamen Entschließung schrieben sie fest, dass die endgültige Festsetzung der Grenzen Deutschlands einem Friedensvertrag vorbehalten bleibe, während die Verpflichtung zu Gewaltverzicht das Kernstück der Übereinkunft darstellen solle. Es war keine grundsätzliche Veränderung, aber sie machte es den Abgeordneten der Opposition möglich, die Ostverträge am 17. Mai 1972 wenigstens durch Stimmenthaltung passieren zu lassen.
Für mich waren dies neben den Putschtagen 1991 in Moskau die heißesten Wochen in meinem Leben als politischer Korrespondent. Das Studio Bonn war mehrere Tage lang praktisch rund um die Uhr auf Sendung. Zum ersten und einzigen Mal durfte das Fernsehen nicht nur offizielle Bilder aus dem Plenarsaal zeigen, sondern direkt aus den meisten Räumen und Korridoren des Bundestags berichten. Eigentlich war das technisch mit den Mitteln der ARD gar nicht möglich, aber die Ingenieure hatten uns aus Telefon- und Konferenzleitungen ein System zusammengestrickt, mit dem wir über direkte Bild- und Tonverbindungen zur Tagesschau nach Hamburg verfügten. Mit unseren Kameras konnten wir aus allen Teilen des Bundestagsgebäudes live auf Sendung gehen und hatten damit die Möglichkeit, Redeausschnitte, Interviews und zufällige
Weitere Kostenlose Bücher