Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Nebenbemerkungen bis spät in die Nacht zu übertragen. So unmittelbar war der Blick des Fernsehens auf die Politik in Deutschland wohl nie wieder. Das bedeutete, dass nicht nur führende Leute der Fraktionen, sondern auch Hinterbänkler im Fernsehen zu sehen und zu hören waren. Sie waren gerade in den Tagen vor dem Misstrauensvotum plötzlich wichtig geworden, weil alle wussten, dass der Ausgang von zwei oder drei Stimmen oder Stimmenthaltungen abhängen würde. Ein Hinterbänkler, der wegen der extrem knappen Mehrheitsverhältnisse zum ersten Mal in seinem Leben ein gefragter und umworbener Mann geworden war, gab uns auf dem Flur vor dem Bundestagsrestaurant ein Liveinterview. Ergriffen von seiner neugewonnenen Bedeutung und erschüttert von den ernsten Überzeugungsgesprächen seiner Fraktionsführung, zeigte sich der Abgeordnete deutlich »bis über die Ohren unter Korn«, wie Parteifreunde seine eigenwilligen Äußerungen später zu erklären versuchten.
Auch in den Tagen, in denen um die Ratifizierung der Ostverträge gerungen wurde, waren wir mit unseren Kameras dicht am Geschehen. Noch kurz vor der Einigung zwischen der Bundesregierung und dem sowjetischen Botschafter schoss Rainer Barzel nach einer wichtigen Fraktionssitzung der CDU auf dem Flur an uns vorbei und rief mir zu: »Ich blicke da nicht mehr durch, ich mache nicht mehr mit.« Auch das lief live im Programm der ARD . Im Bericht aus Bonn öffnete sich dann später am Abend leise die Tür zum Studio, in dem ich den Tagesverlauf schilderte. Ich erblickte den Kanzleramtsminister Horst Ehmke, der mir durch ein Zeichen zu verstehen gab, dass er dringend mit mir sprechen müsse. So etwas war uns bisher noch nicht passiert, aber während des nächsten kurzen Filmbeitrags winkte ich Ehmke zum Moderationstisch herüber. Irgendwie bezog ich ihn dann in meine Zwischenmoderation ein, gab ihm das Wort, und Ehmke berichtete über das Ergebnis der allerletzten spätabendlichen Verhandlung mit dem sowjetischen Botschafter: Moskau hatte ein entscheidendes Zugeständnis in den Formulierungen über die Frage der deutschen Wiedervereinigung gemacht. Der sowjetische Botschafter habe die entsprechende Nachricht gerade aus Moskau erhalten. Damit war die Formel entfallen, welche die Opposition bisher als Grund für ihre Ablehnung genannt hatte.
Horst Ehmke sagte das ganz ruhig und ohne jede Nervosität. Als der nächste Film lief, fragte ich ihn, was ihn geritten habe, so in das laufende Programm zu platzen. Er habe Rainer Barzel nicht anders über diese entscheidend veränderte Lage informieren können, erklärte er mir. Am Telefon habe niemand geantwortet, und auf einen Brief, den er Barzel unter der Wohnungstür durchschieben ließ, sei auch kein Rückruf gekommen. Nun hoffe er, dass Barzel den Bericht aus Bonn gesehen und die wichtige Nachricht verstanden habe. Das war natürlich gegen alle Regeln, aber es war mir auch recht. So hatten wir vielleicht etwas für eine Verständigung in der Ostpolitik getan und unseren Zuschauern und den Kollegen eine Exklusivmeldung geliefert. Tatsächlich war der Weg für die Abstimmung im Bundestag nun frei. Die Bundesrepublik konnte künftig in den Entspannungsprozess der Großmächte einbezogen werden, ohne auf den Anspruch auf Wiedervereinigung verzichten zu müssen. Ein solches Ergebnis hatte ich auf dem Höhepunkt der Diskussionen kaum zu erhoffen gewagt.
In diesen Wochen hielten die Zeitungskollegen abends die Druckmaschinen oft so lange an, bis sie die letzten Informationen aus der Spätausgabe der Tagesschau mitnehmen konnten. Kollegen von einem Hamburger Nachrichtenmagazin polemisierten gegen die Indiskretionen unserer Direktübertragungen – vielleicht, weil bei uns live jene Hintergrundinformationen zu erfahren waren, mit denen es sonst seine Leser überraschen konnte. Der Ältestenrat des Bundestags beschloss am Ende, solche Bedenken zu teilen: Von nun an durften nur noch die festinstallierten Kameras im Plenarsaal und in den Fraktionssälen das politische Geschehen im Bonner Bundestag zeigen.
So aufregend es für mich war, die Auseinandersetzungen in diesen Bonner Jahren zu verfolgen, so war ich wohl doch nicht ganz die optimale Besetzung auf meinem Posten. Ich warf als ehemaliger Auslandskorrespondent zwar einen kühlen Blick auf die Bonner Machtkämpfe, war dabei aber nicht der ideale Studioleiter, der in den Konflikten der Innenpolitik aufging und in mühsamen Verhandlungen die Interessen der ARD gegenüber den
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