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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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zusammensteckten und über ihr Frauenschicksal und den Wahnsinn der Männer quatschten. Deans manisches Kichern hallte durchs Haus, dazwischen hörte ich das Baby schreien. Dann sah ich ihn durch die Wohnung flitzen, geduckt wie Groucho Marx, den gebrochenen Daumen in einem dicken weißen Verband emporgereckt – wie ein Leuchtturm über der tobenden See. Und wieder sah ich seinen jämmerlichen, verbeulten alten Koffer, aus dem Socken und schmutzige Unterwäsche herausquollen; Dean stand gebückt und warf alles hinein, was ihm unter die Finger kam. Dann nahm er seinen Koffer, den verbeultesten Koffer der ganzen Vereinigten Staaten. Er war aus Pappe, mit einem Leder imitierenden Muster und irgendwie angeklebten Scharnieren. Im Deckel war ein langer Riss; Dean zurrte eine Schnur darum. Er zog seinen Seesack hervor und warf alle möglichen Sachen hinein. Auch ich holte meinen Sack und packte. Während Camille im Bett lag und «Lügner! Lügner! Lügner!» rief, flüchteten wir aus dem Haus und schleppten uns durch die Straßen zur nächsten Cable-Car-Haltestelle, ein Haufen aus Männern und Koffern und diesem riesigen, hoch in die Luft gereckten bandagierten Daumen.
    Der Daumen wurde das Symbol für Deans abschließenden Entwicklungsschritt. Er ließ alles laufen (wie früher schon einmal), aber zugleich fühlte er sich grundsätzlich mit allem verbunden ; das heißt, ihm war alles egal, er gehörte der Welt, und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können. Mitten auf der Straße blieb er stehen und sah mich an.
    «Mann, ich weiß, du bist wahrscheinlich stocksauer; du bist den ersten Tag in der Stadt, und wir werden rausgeschmissen, und du fragst dich: Womit habe ich das verdient – und dazu all das Geschrei, hi-hi-hi, aber sieh mich an, Sal, sieh mich bitte an.»
    Ich sah ihn an. Da stand er in seinem T-Shirt, seiner zerschlissenen, unter dem Bauch hängenden Hose, seinen ausgelatschten Schuhen; er war unrasiert, das Haar zerzaust und struppig, die Augen blutunterlaufen, mit diesem Riesenverband am Daumen, der senkrecht vor seiner Brust schwebte (er musste ihn so halten), und trug das dümmste Grinsen der Welt zur Schau. Er drehte sich im Kreis und schaute sich um.
    «Was sehen meine müden Augen? Ah, blauer Himmel. Long-fellow!» Er schwankte und blinzelte, rieb sich die Augen. «Und dazu Fenster – hast du schon mal Fenster gesehen? Gut, sprechen wir über Fenster. Glaube mir, ich habe Fenster gesehen, die mir Fratzen schnitten, und andere, mit vorgezogenen Vorhängen, die mir zugeblinzelt haben.» Er fischte ein Buch aus seinem Seesack, Mysteries of Paris , von Eugene Sue, zupfte an seinem Hemd und begann an dieser Straßenecke mit steifer Würde zu lesen. «Tatsächlich, Sal, lass uns doch mal sehen, was es so alles gibt …» Schon im nächsten Moment hatte er alles vergessen und starrte ins Leere. Gut, dass ich gekommen war, dachte ich, jetzt braucht er mich.
    «Warum hat Camille dich rausgeworfen? Was willst du tun?»
    «Eh?», sagte er. «Eh? Eh?» Wir zerbrachen uns den Kopf, wohin wir gehen und was wir machen sollten. Ich wusste, jetzt war ich gefordert. Armer, armer Dean, der Teufel selbst hätte nicht tiefer fallen können; geistig verwirrt, mit entzündetem Daumen, umgeben von dem ramponierten Gepäck eines mutterlosen fiebrigen Lebens quer durch Amerika, hin und her, unzählige Male, ein gerupfter Vogel. «Lass uns zu Fuß nach New York gehen», sagte er, «und lass uns genau aufnehmen, was uns alles am Weg begegnet – ja, ja!» Ich zog mein Geld aus der Tasche und zählte es vor seinen Augen.
    «Ich habe hier», sagte ich, «genau dreiundachtzig Dollar und ein paar Cent. Wenn du mitkommst, fahren wir zuerst nach New York – und dann gehen wir nach Italien.»
    «Italien?», fragte er. Seine Augen leuchteten auf. «Italien, ja – wie kommen wir dorthin, lieber Sal?»
    Ich dachte nach. «Ich werde etwas Geld verdienen, vom Verlag bekomme ich tausend Dollar. Wir fahren los und werden die verrücktesten Frauen kennenlernen, in Rom, in Paris, überall; wir werden in Straßencafés sitzen, und wir wohnen in den Bordellen. Warum also nicht Italien?»
    «Ja, warum nicht?», sagte Dean, und dann erkannte er, dass ich es ernst meinte, und zum ersten Mal sah er mich schief aus den Augenwinkeln an, denn noch nie zuvor hatte ich mich auf die Härten seines Lebens eingelassen. Es war der Blick eines Mannes, der im letzten Moment noch schnell seine Chancen abwägt, bevor er die Wette platziert.

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