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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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gesunde Hand gebettet, die verbundene Hand blieb automatisch und pflichtbewusst in der Luft.
    Die Leute auf dem Rücksitz seufzten erleichtert auf. Ich hörte sie flüstern und murren. «Wir dürfen ihn nicht mehr ans Steuer lassen, er ist völlig verrückt, vielleicht ist er aus einer Anstalt entlaufen.»
    Ich wollte Dean verteidigen und beugte mich nach hinten, um ihnen ins Gesicht zu sehen. «Der Mann ist nicht verrückt, er kommt gleich wieder klar, und machen Sie sich keine Sorgen wegen der Fahrerei, er ist der beste Fahrer der Welt.»
    «Ich halte das nicht aus», flüsterte die junge Frau mit gepresster, hysterischer Stimme. Ich lehnte mich im Sitz zurück, genoss den Einbruch der Nacht über der Wüste und wartete, dass der verwaiste Engel Dean wieder erwachte. Wir waren auf einem Hügel, von dem aus man die gleichmäßigen Muster der Lichter von Salt Lake City sehen konnte, und Dean öffnete die Augen und sah die Stadt in dieser geisterhaften Welt, in der er einst namenlos und armselig geboren war.
    «Sieh doch, Sal, da bin ich geboren, stell dir vor! Wie die Menschen sich verändern, Jahr um Jahr essen sie ihre Mahlzeiten und verändern sich doch mit jeder Mahlzeit. Aaah! Sieh doch!» Er war so erregt – mir kamen die Tränen. Wohin sollte das alles führen? Die Touristen bestanden darauf, selbst den Rest des Weges nach Denver zu fahren. Okay, uns sollte es recht sein. Wir setzten uns nach hinten und redeten weiter. Aber gegen Morgen wurden sie müde, und bei Craig, in der östlichen Wüste von Colorado, übernahm Dean wieder das Steuer. Die ganze Nacht über waren wir vorsichtig über den Strawberry Pass in Utah gekrochen und hatten eine Menge Zeit verloren. Jetzt schliefen die Touristen. Dean raste auf den mächtigen Wall des Berthoud-Passes zu, hundertfünfzig Kilometer vor dem Dach der Welt, eine gewaltige, von Wolken verhüllte Pforte, die an Gibraltar erinnerte. Wie ein Maikäfer brummte er über den Pass – wie damals am Tehachapi-Pass stellte er den Motor ab und ließ den Wagen schweben, überholte alle Autos und fiel kein einziges Mal aus dem rhythmischen Vorwärtsschaukeln, das der Berg selber vorschrieb, bis wir wieder über die weite, sonnendurchglühte Ebene von Denver blickten – und Dean zu Hause war.
    Mit lächerlich übertriebener Erleichterung ließen die Leute uns an der 27th Street, Ecke Federal aussteigen. Wieder einmal stapelte sich unser schäbiges Gepäck auf dem Gehsteig; vor uns lag noch ein längerer Weg. Aber ganz gleich. Die Straße ist Leben.

sechs
    Diesmal mussten wir uns in Denver mit einer Reihe von Umständen auseinandersetzen, die ganz anders waren als jene von 1947. Wir konnten entweder gleich einen Wagen über die Mitfahrerzentrale kriegen oder zum Spaß ein paar Tage bleiben und nach Deans Vater Ausschau halten.
    Wir waren beide erschöpft und schmutzig. In der Toilette eines Lokals stand ich vor einem Pinkelbecken, womit ich Dean den Weg zum Waschbecken verstellte; deshalb trat ich zurück, bevor ich fertig war, ging zu einem anderen Becken und pinkelte weiter. Ich sagte zu Dean: «Den Trick musst du dir merken.»
    «Mann», sagte er, während er sich am Waschbecken die Hände wusch, «bestimmt ein guter Trick, aber schlecht für deine Nieren, weil du jedes Mal ein bisschen älter wirst, wenn du so was machst, und wenn du alt bist, kommen dann Jahre des Leidens, furchtbare Nierenschmerzen, wenn du irgendwo auf der Parkbank sitzt.»
    Ich wurde sauer. «Wer ist hier alt? Ich bin nicht viel älter als du!»
    «Hab ich auch nicht behauptet, Mann!»
    «Oh», sagte ich, «dauernd machst du witzige Anspielungen auf mein Alter. Ich bin doch kein alter Schwuler, wie dieser Schwule da, mich brauchst du nicht wegen meiner Nieren zu warnen.» Wir kamen wieder an den Tisch, gerade als die Kellnerin unsere warmen Roastbeef-Sandwiches brachte – und normalerweise hätte sich Dean sofort wie ein Wolf auf das Essen gestürzt –, da sagte ich, um meine Wut abzuschütteln: «Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.» Dean traten plötzlich Tränen in die Augen, er stand auf und ließ sein dampfendes Essen stehen und ging nach draußen. Ich überlegte schon, ob er für immer abgehauen sei. Mir war es egal, so wütend war ich – ich war einen Moment regelrecht ausgerastet und hatte es Dean fühlen lassen. Aber der Anblick seines nicht angerührten Essens machte mich so traurig, wie ich seit Jahren nicht mehr gewesen war. Ich hätte es nicht sagen sollen … er isst doch so

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