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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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Jahren, mit Schwielen an den Arbeiterhänden. Dean stand ehrfürchtig vor ihm. «Nein», sagte Sam Brady, «ich trinke nicht mehr.»
    «Siehst du? Siehst du?», flüsterte Dean mir ins Ohr. «Er trinkt nicht mehr, dabei war er der größte Whiskysäufer in der Stadt, jetzt ist er fromm geworden, gläubig, hat er mir am Telefon erzählt, verstehst du? Verstehst du die Veränderung, die in einem Menschen vorgehen kann? Mein Held ist mir fremd geworden.» Sam Brady war voller Misstrauen gegen seinen jungen Vetter. Er drehte mit uns eine Runde in seinem klapprigen alten Coupé und stellte sofort die Verhältnisse klar.
    «Sieh mal, Dean, ich habe den Glauben an dich verloren, mir kannst du nichts mehr erzählen. Heute Abend bin ich nur gekommen, weil du Papiere unterzeichnen sollst, für die Familie. Dein Vater existiert nicht mehr für uns, wir sprechen nicht mehr von ihm und wollen nichts mit ihm zu schaffen haben, und – tut mir leid, es zu sagen – mit dir auch nicht.» Ich sah Dean an. Ihm fiel die Kinnlade runter, und sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich.
    «Ja, ja», sagte er. Der Vetter fuhr noch ein Stück mit uns spazieren und spendierte uns sogar ein Eis. Trotz allem bestürmte ihn Dean mit unzähligen Fragen nach der Vergangenheit, und der Vetter gab Antwort, und einen Moment lang schwitzte Dean beinahe schon wieder vor Begeisterung. Oh, wenn nur sein armer Vater an diesem Abend dabei gewesen wäre! Der Vetter ließ uns im trüben Licht eines Rummelplatzes am Alameda Boulevard, Ecke Federal, aussteigen. Er vereinbarte mit Dean ein Treffen am nächsten Nachmittag zur Unterzeichnung der Papiere und verschwand. Ich sagte Dean, es tue mir so leid, dass niemand mehr auf der Welt an ihn glaube.
    «Aber ich glaube an dich, vergiss das nicht. Es tut mir unendlich leid, mein blöder Zorn gestern Nachmittag auf dich.»
    «Schon gut, Mann, ist erledigt», sagte Dean. Wir gingen zusammen auf den Rummelplatz. Es gab Karussells, Riesenräder, Popcorn-Stände, ein Roulette, billige Kneipen und Hunderte von Kids aus Denver, die ziellos in ihren Jeans umherschlenderten. Staub stieg zum Sternenhimmel auf, dazu die traurigste Musik dieser Erde. Dean trug seine ausgewaschenen engen Jeans und ein T-Shirt, und er sah plötzlich wieder wie ein richtiger Typ aus Denver aus. Man sah Motorrad-Typen mit Visier und Schnurrbart und nietenbesetzten Jacken, die bei den Spannleinen hinter den Zelten herumlungerten, mit hübschen Mädchen in engen Jeans und roten Blusen. Man sah auch eine Menge mexikanische Chicks und ein erstaunliches kleines Mädchen, nur etwa einen Meter groß, eine Zwergin – sie hatte das schönste und zarteste Gesicht der Welt –, die sich zu ihrem Begleiter umdrehte und sagte: «Komm, lass uns Gomez anrufen und hier verschwinden.» Dean blieb wie angewurzelt stehen, als er sie sah. Ein Dolch aus dem Dunkel der Nacht hatte ihn ins Herz getroffen. «O Mann, ich liebe sie, ich liebe sie …» Wir mussten ihr nachlaufen, ein ganzes Stück, bis sie schließlich über die Straße ging, in ein Motel, um dort in der Zelle einen Anruf zu machen, und Dean gab vor, im Telefonbuch zu blättern, während er sie in Wahrheit wie gebannt beobachtete. Ich wollte mit den Freundinnen des süßen Püppchens ein Gespräch anfangen, aber sie beachteten uns nicht. Dann kam Gomez mit einem klapprigen Lastwagen vorbeigefahren und holte die Mädchen ab. Dean stand auf der Straße und schlug die Hände vor die Brust. «Oh, Mann, ich wäre fast gestorben …»
    «Warum, verdammt, hast du sie nicht angesprochen?»
    «Kann ich nicht, konnte ich nicht …» Wir beschlossen, Bier zu holen und bei Frankie, der Wanderarbeiterin, Platten zu hören. Wir marschierten die Straße lang, mit einer großen Tüte voller Bierdosen. Frankies Tochter, die dreizehnjährige Janet, war das allerschönste Mädchen in der Welt und würde zu einer sagenhaften Frau heranwachsen. Das Beste von allem waren die schmalen, spitz zulaufenden sensiblen Finger, mit denen sie zu sprechen pflegte wie eine Kleopatra vom Nil beim Tanz. Dean saß in der anderen Ecke des Zimmers, beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen und sagte: «Ja, ja, ja.» Janet hatte ihn schon gewahrt, sie wandte sich schutzsuchend an mich. In den vergangenen Sommermonaten hatte ich viel Zeit mit ihr verbracht, mit ihr über Bücher geredet und über die kleinen Dinge, die ihr am Herzen lagen.

sieben
    An diesem Abend passierte nichts; wir gingen schlafen. Alles passierte am nächsten Tag.

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