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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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vibrierenden Gewimmel dieser wahrhaft aufregendsten Stadt Amerikas – und darüber der reine, blaue Himmel und die Freude an dem Nebelmeer, das jeden Abend heranrollt und jedermann hungrig auf gutes Essen und weitere Aufregungen macht. Es tat mir leid, dass ich fort musste; mein Aufenthalt hatte kaum mehr als sechzig Stunden gedauert. Mit dem verrückten Dean raste ich durch die Welt, ohne die Chance, etwas von ihr zu sehen. Am Nachmittag brausten wir nach Sacramento und wieder nach Osten.

fünf
    Der Wagen gehörte einem langen, dünnen Schwulen, der auf dem Heimweg nach Kansas war und eine Sonnenbrille trug; er lenkte sein Auto mit äußerster Vorsicht; der Wagen war, was Dean einen «Schwuchtel-Plymouth» nannte; kein Beschleunigungsvermögen und keine wirkliche Kraft. «Ein feminines Auto!», flüsterte Dean mir ins Ohr. Es gab noch zwei andere Mitfahrer, ein Pärchen, typische Sonntagstouristen, die überall haltmachen und übernachten wollten. Erster Halt sollte unbedingt Sacramento sein, kaum der Anfang unserer Fahrt nach Denver. Dean und ich saßen allein auf dem Rücksitz, überließen die anderen ihrem Schicksal und redeten.
    «Also, der Typ mit dem Altsaxophon, Mann, gestern Abend – der hatte ES, und er hat es festgehalten; ich habe noch nie erlebt, dass einer es so lange halten konnte.» Ich wollte wissen, was «ES» bedeute. «Ah», lachte Dean, «jetzt fragst du mich Imponderabilien, hmm! Hier steht zum Beispiel ein Typ, und da ist das Publikum, verstehst du? Seine Aufgabe ist es, auszudrücken, was all die anderen fühlen. Er fängt mit dem ersten Chorus an, reiht dann seine Ideen aneinander, die Leute schreien ‹yeah, yeah, weiter so›, und dann stellt er sich zu seinem Schicksal auf, und muss etwas entsprechendes blasen. Und plötzlich, irgendwo mitten im Chorus, hat er es – alle blicken auf und wissen es; sie lauschen; er greift es auf und führt es weiter. Die Zeit bleibt stehen. Er füllt den leeren Raum mit der Substanz unseres Lebens, mit Geständnissen dessen, was ihm Bauchschmerzen macht, mit Erinnerungen an Ideen, an Themen früherer Sessions. Er muss über die Brücken hinweg und wieder zurück, mit einem so tiefen, die Seele auslotenden Gefühl für die Melodie des Augenblicks, dass alle wissen, nicht auf die Melodie kommt es an, sondern auf ES –» Dean konnte nicht weiter, er brach in Schweiß aus, während er darüber sprach.
    Jetzt fing ich an zu reden; ich habe nie im Leben so viel geredet wie damals. Ich erzählte Dean, dass ich, wenn ich als Kind im Auto mitfahren durfte, mir immer vorstellte, ich hielte eine große Sichel in der Hand und mähte alle Bäume und Masten nieder und säbelte sogar die Berge ab, die am Fenster vorbeisausten. «Ja! Ja!», rief Dean. «Genau so hab ich es auch gemacht, nur dass es eine andere Sichel war – und ich will dir sagen, warum. Wenn wir durch den Westen fuhren, diese weiten Entfernungen, musste meine Sichel unendlich viel länger sein, sie musste ferne Berge erreichen und ihre Gipfel abrasieren, und noch viel fernere Gipfel erwischen, und gleichzeitig musste sie jeden Pfosten am Straßenrand kappen, die normalen Pfosten, die vorbeiflitzten. Und darum muss ich dir erzählen – o Mann, ich hab’s, JETZT habe ich ES –, ich muss dir erzählen, wie wir einmal, mein Vater und ich, mit einem armen Penner von der Larimer Street mitten in der Zeit der Depression nach Nebraska fuhren, um Fliegenklatschen zu verkaufen. Und, hör dir an, wie wir sie hergestellt haben: wir kauften Maschendraht für Fliegengitter und ganz gewöhnlichen Draht, den wir doppelt flochten, Reste von rotem und blauem Stoff, den wir um die Ränder nähten, und das alles für ein paar Cents im Penny-Markt, und fabrizierten Tausende von Fliegenklatschen und setzten uns in die alte Karre dieses Penners und kutschierten durch Nebraska und verhökerten die Dinger für einen Nickel das Stück, in jedem Farmhaus – meist gaben sie uns das Geld aus Barmherzigkeit, zwei alten Landstreichern mit einem Jungen auf Wanderschaft, Apfelkuchen am Himmel, ‹Halleluja, ich bin wieder ein Vagabund-bund-bund›, hat mein Vater damals immer gesungen. Und, Mann, jetzt hör zu, volle zwei Wochen waren wir in der Hitze über Land gefahren und hatten unter Qualen, mit Flehen und Betteln diese abscheulichen selbstgebastelten Fliegenklatschen verhökert, als die beiden Alten sich über die Aufteilung des Profits in die Haare kriegten und sich am Straßenrand prügelten, und schließlich

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