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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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gern … Nie hat er sein Essen einfach so stehenlassen … Ach, verdammt. Soll es ihm eine Lehre sein.
    Dean stand draußen vor dem Restaurant, genau fünf Minuten lang, dann kam er wieder herein und setzte sich. «Na», sagte ich, «was hast du da draußen gemacht, die Fäuste geballt? Mich verflucht, dir neue Witze über meine Nieren ausgedacht?»
    Dean schüttelte stumm den Kopf. «Nein, Mann, nein, du liegst völlig falsch. Wenn du’s wissen willst, na …»
    «Na, mach schon, erzähl.» Ich sagte das, ohne den Blick von meinem Teller zu heben. Ich fand mich selbst widerlich.
    «Ich habe geweint», sagte Dean.
    «Blödsinn, du weinst doch nie.»
    «Warum sagst du das? Wieso glaubst du, ich könnte nicht weinen?»
    «Dazu geht’s dir nicht dreckig genug.» Mit jedem dieser Sätze stieß ich mir selbst ein Messer in die Brust. Meine ganze unterdrückte Wut auf meinen Bruder kam heraus: Wie konnte ich so gemein sein, wie viel Schmutz stieg da aus den Tiefen meiner eigenen unreinen Psyche auf!
    Dean schüttelte den Kopf. «Nein, Mann, ich hab geweint.»
    «Komm schon, ich wette, du warst so sauer, dass du raus musstest.»
    «Glaub mir, Sal, wirklich, glaub mir, falls du mir jemals ein Wort geglaubt hast.» Ich wusste, dass er die Wahrheit sagte, und wollte doch nichts mit dieser Wahrheit zu tun haben, und als ich ihn ansah, kam ich mir selber blödsinnig vor und spürte den Knoten in meinem verdammten Bauch. Da wusste ich, dass ich im Unrecht war.
    «Ach, Mann, Dean, es tut mir leid, noch nie hab ich mich dir gegenüber so benommen. Na, endlich lernst du mich kennen. Du weißt, ich habe keinerlei nähere Beziehungen mehr zu irgendjemandem – ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Ich halte Dinge in der Hand, als wären sie Dreck, und weiß nicht, wo ich sie hinlegen soll. Vergiss es.»
    Der heilige Schwindler fing an zu essen. «Es ist nicht meine Schuld, es ist nicht meine Schuld!», sagte ich. «Nichts auf dieser lausigen Welt ist meine Schuld, verstehst du das nicht? Ich will nicht, dass es so ist, und es kann nicht sein, und es wird nicht so sein.»
    «Ja, Mann, ja, Mann. Aber kommen wir bitte zurück zur Sache, und glaube mir.»
    «Ich glaube dir doch, ja, wirklich.» Dies war die traurige Geschichte jenes Nachmittags. Alle möglichen furchtbaren Komplikationen ergaben sich noch am gleichen Abend, als wir, Dean und ich, bei der Wanderarbeiterfamilie einzogen.
    Die Leute waren Nachbarn von mir gewesen, in meiner Denver-Einsamkeit vor zwei Wochen. Die Mutter war eine wunderbare Frau in Jeans, die Kohlenlaster durch die winterlichen Berge steuerte, um ihre Kinder durchzubringen, vier im Ganzen, nachdem ihr Mann sie vor Jahren verlassen hatte, als sie alle zusammen mit einem Trailer durchs Land fuhren. Mit diesem Trailer waren sie von Indiana nach L. A. gekommen. Nach vielen guten Zeiten und tollen Sonntagnachmittagssaufereien in Kneipen an Straßenkreuzungen, nach viel Gelächter und abendlichem Gitarrespiel war der große Lümmel plötzlich aufgestanden und über die nächtlichen Felder davongegangen, um niemals wiederzukommen. Die Kinder waren wunderbar. Der Älteste war ein Junge, der nicht zu Hause war, sondern den Sommer in einem Jugend-Camp in den Bergen verbrachte; dann kam die süße dreizehnjährige Tochter, Janet, die Gedichte schrieb und auf den Feldern Blumen pflückte und, wenn sie einmal groß war, Schauspielerin in Hollywood werden wollte; danach kamen die beiden Kleinen, Little Jimmy, der abends am Lagerfeuer nach seinen «Toffeln» schrie, bevor sie noch halb geröstet waren, und Little Lucy, die Würmer und Kröten und Käfer als Haustiere adoptierte, alles, was krabbeln konnte, und ihnen Namen und ein Obdach gab. Sie hatten vier Hunde. Sie lebten ihr ärmliches, fröhliches Leben in der kleinen Neubausiedlung am Straßenrand, wo sie Kritik und Spott ihrer halbrespektablen Nachbarn ertragen mussten, nur weil die arme Frau von ihrem Mann verlassen worden war und weil sie Unordnung im Hof machten. Abends sah man von dort all die Lichter von Denver wie ein großes Rad auf der Ebene ausgebreitet, denn das Haus stand im Westen der Stadt, wo die Berge sanft in die Ebenen auslaufen und wo in Urzeiten wahrscheinlich die sanften Wellen eines meergroßen Mississippi schwappten und solche runden, perfekten Sockel für inselartige Gipfel wie den Evans und den Pike und den Longs ausgewaschen haben. Dean kam dort an und war natürlich sofort hell begeistert, als er sie alle sah, vor allem Janet, aber

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