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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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war ein sehniger, schüchterner Junge aus Denver mit wilder Mähne, einem breiten Gaunerlächeln und langsamen, lässigen Bewegungen wie Gary Cooper. «Verdammt nochmal», sagte er, hakte die Daumen in seinen Gürtel und schlenderte, leicht in den Hüften wiegend, die Straße entlang. Sein Großvater machte ihm das Leben schwer. Er war gegen die Frankreichreise gewesen, und jetzt war er dagegen, dass Stan nach Mexiko fuhr. Wegen der Streits mit seinem Großvater trieb sich Stan wie ein Landstreicher in Denver herum. In dieser Nacht, nachdem wir alle mächtig gesoffen und Henry davor bewahrt hatten, dass ihm in der Hot Shoppe an der Colfax Avenue die Sicherung durchbrannte, stolperte Stan mit Henry davon, um bei ihm im Hotelzimmer an der Glenarm Street zu übernachten. «Ich darf nicht einmal spät nach Hause kommen – sofort fängt mein Großvater Streit an, und dann wendet er sich gegen meine Mutter. Ich sage dir, Sal, ich muss bald aus Denver verschwinden, sonst werde ich noch verrückt.»
    Nun, ich blieb erst einmal bei Tim Gray, und später fand Babe Rawlins ein nettes kleines Kellerzimmer für mich, und dort feierten wir eine Woche lang jeden Abend unsere Partys. Henry verschwand zu seinem Bruder, und wir sahen ihn nie wieder und werden niemals erfahren, ob ihm seither jemand Andeutungen gemacht hat und ob er wieder hinter Gittern gelandet ist oder ob er noch immer bei Nacht in Freiheit seine Ketten sprengt. Tim Gray, Stan, Babe und ich verlebten eine ganze Woche wilder Nachmittage in den nettesten Bars von Denver, wo die Kellnerinnen lange weiche Hosen tragen und mit scheuen, liebevollen Blicken umherlaufen, nicht abgebrühte Schankweiber, sondern Kellnerinnen, die sich noch in ihre Gäste verlieben und heiße Affären haben und sich von einem harten miesen Job zum anderen schleppen. Die Abende derselben Woche verbrachten wir in Five Points, hörten Jazz und tranken Schnaps in wüsten Schwarzenkneipen und quatschten bis fünf Uhr früh in meinem Keller. Mittags saßen wir meist bequem zurückgelehnt in Babes Garten, zwischen den kleinen Kindern aus Denver, die Cowboy und Indianer spielten und sich von blühenden Kirschbäumen auf uns fallen ließen. Es war eine wunderschöne Zeit für mich, und die ganze Welt lag offen vor mir, weil ich keine Träume hatte. Stan und ich beschlossen insgeheim, dass wir Tim Gray überreden wollten, mit uns zu fahren, aber Tim hing zu sehr an seinem Leben in Denver.
    Ich war allmählich bereit, nach Mexiko aufzubrechen, als Denver Doll mich eines Abends anrief und sagte: «Rate mal, Sal, wer nach Denver kommt?» Ich hatte keine Ahnung. «Er ist schon unterwegs, ich habe die Neuigkeit durch meinen Nachrichtendienst erfahren. Dean hat ein Auto gekauft und kommt zu dir.» Plötzlich hatte ich eine Vision, ich sah Dean als lodernden, schaurig-schönen Engel zitternd über die Straße heranschweben, er näherte sich wie eine Wolke, mit enormer Geschwindigkeit, und er verfolgte mich wie einst der verhüllte Wanderer in der Prärie und stieß auf mich nieder. Riesig sah ich sein Gesicht über der weiten Ebene, seine wilde, knochenharte Entschlossenheit und die leuchtenden Augen; ich sah seine Flügel, sah seine alte Kutsche mit tausend Funken sprühenden Flammen heranbrausen, sah die Brandspur, die er auf der Straße zurückließ; ja, er bahnte sich sogar seine eigene Straße und walzte Maisfelder und Städte nieder, zerstörte Brücken und trocknete Flüsse aus. Wie der Zorn Gottes kam er über den Westen. Ich wusste, Dean war wieder einmal verrückt geworden. Da war keine Chance mehr, dass er seinen beiden Frauen Geld schickte, wenn er seine Ersparnisse von der Bank geholt und ein Auto gekauft hatte. Alles ging wieder los, der ganze Tanz fing von vorn an. Hinter ihm rauchten verkohlte Ruinen. Wieder mal rauschte er über den ächzenden und erhabenen Kontinent westwärts, und bald würde er da sein. Hastig trafen wir Vorbereitungen für seinen Empfang. Es hieß, er habe vor, mich nach Mexiko zu fahren.
    «Glaubst du, er lässt mich mitkommen?», fragte Stan furchtsam.
    «Ich werde mit ihm reden», sagte ich grimmig. Wir wussten nicht, was wir zu erwarten hatten. «Wo wird er schlafen? Was soll er essen? Gibt es Mädchen für ihn?» Es war wie die unmittelbar bevorstehende Ankunft Gargantuas; es war dringend erforderlich, die Gossen von Denver zu verbreitern und die Gültigkeit gewisser Gesetze einzuschränken, um Raum zu schaffen für die Wucht seines Leids und das Feuer seiner

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