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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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Frisco, mit dem neuen Baby auf dem Arm, einem kleinen Mädchen. Der Schatten eines Mannes fiel auf der sonnigen Straße über das Kind, zwei lange Hosenbeine, in ihrer ganzen Trostlosigkeit. «Wer ist das?»
    «Das ist nur Ed Dunkel. Er ist wieder mit Galatea zusammen, sie sind jetzt nach Denver gegangen. Vorher haben sie einen Tag damit verbracht, Fotos zu machen.»
    Ed Dunkel mit seinem Mitleid, das so wenig beachtet wurde wie das Mitleid der Heiligen. Dean zog noch andere Fotos hervor. Diese Schnappschüsse, sagte ich mir, würden unsere Kinder eines Tages voll Staunen betrachten, und sie würden denken, was für ein ruhiges und wohlgeordnetes Leben ihre Eltern doch geführt hatten, eingefangen in einem Foto, wie sie morgens aufstanden, um stolz durchs Leben zu wandeln – und kein Gedanke an den zerrissenen Wahnsinn und Aufruhr unseres gegenwärtigen Lebens, unserer gegenwärtigen Nacht, an diese Hölle, dieses sinnlose Unterwegssein auf den Straßen des Albtraums. Und das alles in einer Leere ohne Anfang und Ende. Traurige Formen von Unwissenheit. «Goodby, goodby.» Dean ging davon unter dem langgestreckten Abendrot. Oberhalb von ihm rauchten und rangierten Lokomotiven. Sein Schatten folgte ihm, äffte seine Schritte nach, seine Gedanken, sein ganzes Sein. Er drehte sich um und winkte schüchtern, verlegen. Er hob zwei Finger, hüpfte auf und ab, rief etwas, das ich nicht verstand. Er lief in einem Kreis herum und näherte sich immer mehr der Betonmauer vor der Eisenbahnüberführung. Er gab mir ein letztes Zeichen, ich winkte zurück. Plötzlich wandte er sich seinem Leben zu und entschwand mit schnellen Schritten meinem Blickfeld. Ich starrte in die düstere Leere meiner eigenen Tage. Auch ich hatte noch einen furchtbar langen Weg vor mir.

zwei
    Am nächsten Abend gegen Mitternacht sang ich dieses kleine Liedchen vor mich hin,
Zu Haus in Missoula,
Zu Haus in Truckee,
Zu Haus in Opelousas,
Daheim bin ich nie.
Zu Haus im alten Medora,
Zu Haus in Wounded Knee,
Zu Haus in Ogallala,
Ein Heim find ich nie,
    als ich in den Autobus nach Washington stieg; dort vergeudete ich einige Zeit, indem ich in der Stadt herumging, fuhr dann einen Umweg, um den Blue Ridge zu sehen, hörte den Vogel von Shenandoah und besuchte Stonewall Jacksons Grab, spuckte in der Abenddämmerung in den Kanawha River und wanderte durch die Hillbilly-Nacht von Charleston, West Virginia; Mitternacht dann in Ashland, Kentucky, und ein einsames Mädchen unter dem Vordach eines bereits geschlossenen Theaters. Das dunkle und geheimnisvolle Ohio und Cincinnati im Morgengrauen. Wieder die Felder von Indiana und St. Louis – wie immer unter hohen Quellwolken am Nachmittag. Das schmutzige Kopfsteinpflaster und die Baumstämme aus Montana, die außer Dienst gestellten Dampfboote, die alten Straßenschilder, das Gras und die Taue am Fluss. Das endlose Gedicht. In der Nacht Missouri, die Felder von Kansas, die Nacht-Kühe von Kansas in den ungeahnten Weiten, Schuhschachtelstädte mit einem See am Ende jeder Straße und die Morgendämmerung in Abilene. Aus fetten Weiden im Osten von Kansas werden die Steppen in Westkansas, die sich hinaufziehen zum Hügelland der westlichen Nacht.
    Henry Glass saß neben mir im Bus. Er war in Terre Haute, Indiana, zugestiegen, und jetzt sagte er: «Ich habe Ihnen gesagt, warum ich den Anzug, den ich anhabe, nicht leiden kann – aber das ist nicht alles.» Er zeigte mir einige Papiere. Er war soeben aus dem Bundesgefängnis in Terre Haute entlassen worden; er hatte Autos in Cincinnati gestohlen und weiterverkauft. Ein junger Bursche von zwanzig mit gelocktem Haar. «Sobald ich in Denver bin, versetze ich diesen Anzug im Pfandhaus und besorge mir Jeans. Wissen Sie, was die im Gefängnis mit mir gemacht haben? Einzelhaft, nur mit der Bibel; die benutzte ich, um mich auf den Steinfußboden zu setzen; als sie das sahen, nahmen sie mir die Bibel weg und gaben mir so ’ne winzige Taschenbibel. War zu klein zum Draufsitzen, also las ich die ganze Bibel und das Testament. Hihi» – er stieß mich an, seinen Bonbon kauend, er aß dauernd Bonbons, weil er sich im Zuchthaus den Magen ruiniert hatte und nichts anderes mehr vertrug –, «da stehen echt scharfe Sachen drin, in dieser Bibel.» Er erklärte mir, was es hieß, «Andeutungen» zu machen. «Wenn jemand bald entlassen werden soll und er fängt an, von seinem Entlassungstag zu reden, ‹deutet er an›, dass die anderen bleiben müssen. Wir packen ihn dann beim Genick und

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