Unterwegs
Die Indianer, die wir am Straßenrand sahen, wirkten immer unheimlicher. Sie waren ein Volk für sich, Bergindianer, abgeschlossen von aller Welt, bis auf den Pan-American-Highway. Es waren kleine, gedrungene und dunkelhäutige Menschen mit schlechten Zähnen; sie schleppten immense Lasten auf dem Rücken. Über tiefe grüne Schluchten hinweg sahen wir das Flickenmuster bebauter Felder an steilen Hängen. Die Indianer kletterten diese Hänge rauf und runter und bestellten ihre Äcker. Dean fuhr langsam, mit zehn Stundenkilometern, und staunte. «Oooh! Dass es so etwas gibt!» Hoch oben auf dem höchsten Gipfel, so hoch wie die Gipfel der Rocky Mountains, sahen wir Bananenstauden. Dean stieg aus, zeigte nach oben, stand da und rieb sich den Bauch. Wir befanden uns auf einem Felsvorsprung, wo eine kleine strohgedeckte Hütte über dem Abgrund der Welt hing. Die heiße Sonne schuf goldene Schleier, die den jetzt noch tiefer gelegenen Moctezuma verhüllten.
Vor der Hütte stand ein kleines Indianermädchen, etwa drei Jahre alt; sie hatte den Zeigefinger im Mund und sah uns mit großen braunen Augen an. «Wahrscheinlich hat sie noch nie im Leben jemanden hier oben parken sehen!», flüsterte Dean. «Hal-lo, Kleine. Wie heißt du? Magst du uns?» Das kleine Mädchen guckte verschämt beiseite und zog eine Schnute. Wir redeten auf sie ein, und sie schaute uns wieder an, mit dem Zeigefinger im Mund. «Gott, wenn ich ihr doch etwas schenken könnte! Stellt euch das vor , hier geboren zu werden und auf diesem Felszacken zu leben – und dieser Felszacken steht für alles, was du vom Leben kennenlernst. Ihr Vater muss sich wahrscheinlich am Seil in die Schlucht hinunterhangeln und seine Ananas aus einer Höhle holen und Holz hacken, alles in einem Winkel von achtzig Grad, und darunter der Abgrund. Nie wird sie von hier fortgehen und irgendetwas von der Außenwelt kennenlernen. Dies ist ein eigenes Volk. Was mögen sie für einen wilden Häuptling haben! Und abseits von der Straße, in den Wäldern hinter dem Berg dort, sind sie wahrscheinlich noch wilder und fremdartiger, ja, weil ja der Pan-American-Highway die Zivilisation zu den Leuten bringt. Seht die Schweißtropfen auf der Stirn der Kleinen», sagte Dean und deutete schmerzerfüllt auf sie. «Das ist nicht der Schweiß, den wir schwitzen, er ist ölig und er ist immer da , weil es hier immer so heiß ist, das ganze Jahr. Sie weiß nicht, was es ist, ohne Schweiß zu leben, sie wurde mit diesem Schweiß geboren und wird mit Schweiß sterben.» Der Schweiß auf der Stirn des Mädchens war dick und klebrig; er floss nicht; er war einfach da und glänzte wie feines Olivenöl. «Was mag in den Seelen der Leute hier vorgehen! Wie anders müssen sie sein in ihren Sorgen und Wertvorstellungen und Wünschen!» Dean starrte mit offenem Mund, als er mit kaum weniger schleppendem Tempo weiterfuhr, begierig, nichts, keines der menschlichen Wesen an der Straße zu verpassen! Wir kletterten höher und höher.
Je höher wir kamen, umso kälter wurde es, und die Indianermädchen an der Straße hatten ihre Köpfe und Schultern in Schals gehüllt. Sie winkten uns aufgeregt; wir hielten an, um zu sehen, was es gab. Sie wollten uns kleine Stückchen Bergkristall verkaufen. Ihre großen braunen Augen blickten so unschuldig und mit so seelenvoller Intensität in unsere Gesichter, dass keinem von uns der leiseste Gedanke an Sex kam; außerdem waren sie sehr jung, manche erst elf Jahre, auch wenn sie wie dreißig wirkten. «Seht doch, diese Augen!», hauchte Dean. Es waren die Augen der Muttergottes, als sie selber noch ein Kind war. Wir sahen in ihren Augen den sanften, alles vergebenden Blick Jesu. Und sie starrten uns unverwandt an. Wir rieben uns unsere flimmernden blauen Augen und sahen abermals hin. Und noch immer drangen ihre Blicke mit einem schmerzhaften hypnotischen Licht in uns ein. Wenn sie sprachen, waren sie plötzlich lebhaft und fast albern. Nur in ihrem Schweigen waren sie unverkennbar sie selbst. «Sie haben erst kürzlich gelernt, diese Kristalle zu verkaufen – erst seit vor zehn Jahren der Highway gebaut wurde. Bis dahin hat dieses ganze Volk wahrscheinlich geschwiegen !»
Die Mädchen drängten sich bettelnd um unser Auto. Ein besonders seelenvolles Kind fasste Deans verschwitzten Arm. Sie bettelten auf Indianisch. «Ach ja, ach ja, meine arme Kleine», sagte Dean zärtlich und beinahe traurig. Er stieg aus und öffnete hinten seinen verbeulten Koffer – den armen
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