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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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die alten Cops erzählten Geschichten.
    Es war ein schrecklicher Haufen, Männer mit Polizistenseelen, alle, bis auf Remi und mich. Remi wollte dort nur seinen Lebensunterhalt verdienen, und ich auch, aber diese Männer wollten Verhaftungen aufweisen und Belobigungen vom Polizeichef der Stadt einstreichen. Sie sagten sogar, wenn man es nicht mindestens auf eine Verhaftung im Monat brächte, würde man gefeuert. Mir kam das Kotzen bei dem Gedanken daran, jemanden zu verhaften. Tatsache ist, dass ich in der Nacht, als in den Baracken die Hölle losbrach, genauso besoffen war wie alle anderen.
    In dieser Nacht sah der Dienstplan vor, dass ich sechs Stunden lang ganz allein war – der einzige Cop auf dem Gelände. Und anscheinend hatten sich alle in den Baracken an diesem Abend volllaufen lassen. Der Grund war, dass ihr Schiff am Morgen auslaufen sollte. Sie soffen wie Seeleute in der Nacht, bevor der Anker gelichtet wird. Ich saß im Büro, die Füße auf dem Schreibtisch, und las meine Blue-Book -Abenteuergeschichten über Oregon und den Norden des Landes, als ich plötzlich merkte, dass die gewöhnlich stille Nacht vor Betriebsamkeit nur so brummte. Ich ging nach draußen. In fast jeder verdammten Baracke auf dem Gelände brannte Licht. Männer grölten, Flaschen splitterten. Für mich hieß es: Friss, Vogel, oder stirb. Ich nahm meine Taschenlampe, ging an die Tür, wo es am lautesten war, und klopfte. Jemand öffnete einen Spalt.
    «Was willst du hier?»
    Ich sagte: «Ich muss heute Nacht diese Baracken bewachen, und ihr Männer solltet euch möglichst ruhig verhalten» – oder irgend so einen blöden Spruch. Sie knallten mir die Tür vor der Nase zu. Ich stand da und starrte auf das Holz vor meiner Nase. Es war wie im Wildwestfilm: Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Ich klopfte noch einmal. Diesmal flog die Tür weit auf. «Hört zu», sagte ich, «ich habe keine Lust, hier anzutanzen und euch zu nerven, aber ich verliere meinen Job, wenn ihr solchen Krach macht.»
    «Wer bist du?»
    «Ich bin Wachmann hier.»
    «Noch nie gesehen.»
    «Hier ist meine Plakette.»
    «Wozu hast du den Knaller an deinem Arsch baumeln?»
    «Gehört nicht mir», entschuldigte ich mich. «Hab ich mir ausgeliehen.»
    «Komm, trink einen Schluck, in Gottes Namen.» Ich hatte nichts dagegen und trank zwei.
    Ich sagte: «Okay, Freunde, ihr werdet jetzt ruhig bleiben, Freunde! Ihr wisst, sonst sitze ich in der Scheiße.»
    «In Ordnung, Kleiner», sagten sie. «Lauf und dreh deine Runde. Wenn du Lust hast, kommst du wieder auf einen Schluck.»
    Auf diese Art zog ich von Tür zu Tür, und bald war ich genauso besoffen wie alle anderen. Bei Tagesanbruch war’s meine Pflicht, die amerikanische Flagge an einem Zwanzig-Meter-Mast zu hissen, und an diesem Morgen hisste ich sie verkehrt herum, bevor ich nach Hause ging und mich ins Bett legte. Als ich am Abend wiederkam, hockten die regulären Cops mit grimmigen Gesichtern im Büro.
    «Sag mal, Junge, was war das heute Nacht denn für ein Krawall hier? Wir haben Beschwerden von Leuten, die in den Häusern jenseits des Canyons wohnen.»
    «Keine Ahnung», sagte ich. «Scheint doch ganz ruhig jetzt.»
    «Das ganze Kontingent ist abgefahren. Du solltest gestern Abend hier für Ordnung sorgen – der Chef tobt wegen dir. Und noch etwas – wusstest du nicht, dass du ins Gefängnis kommen kannst, wenn du die amerikanische Flagge verkehrt herum an einem staatlichen Fahnenmast aufziehst?»
    «Verkehrt herum?» Ich war entsetzt; natürlich hatte ich’s nicht gemerkt. Ich machte es jeden Morgen ganz automatisch.
    «Jawohl», sagte ein fetter Cop, der zweiundzwanzig Jahre als Wärter auf der Zuchthausinsel Alcatraz verbracht hatte. «Für so was kannst du glatt im Knast landen.» Die anderen nickten grimmig. Sie hockten immer fett auf ihren Ärschen; sie waren stolz auf ihre Arbeit. Sie befingerten ihre Revolver und redeten gern darüber. Es juckte sie in den Fingern, jemanden umzulegen. Remi und mich.
    Der Cop, der Wärter auf Alcatraz gewesen war, hatte einen Spitzbauch und war an die sechzig; er war schon in Pension, konnte aber auf die Atmosphäre, die ein Leben lang seine dürre Seele genährt hatte, nicht verzichten. Jeden Abend kam er in seinem 35er Ford angefahren, drückte pünktlich auf die Minute die Stechuhr und setzte sich an das Rollpult. Mühsam bearbeitete er das simple Formular, das wir jeden Abend auszufüllen hatten – Kontrollgänge, Uhrzeit, Vorkommnisse und so weiter. Dann lehnte

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