Unterwegs
sehen. Wenn wir erst mal in New Orleans sind. Glaubst du nicht, hm?» Er hatte sich angewöhnt, auch mich um Rat zu fragen. Dean allein genügte ihm nicht. Er war aber schon in Galatea verliebt, wenn er es recht bedachte.
«Und was hast du mit dir selbst vor, Ed?», fragte ich.
«Ich weiß nicht», sagte er. «Einfach weitermachen. Das Leben packen.» Er redete schon wie Dean. Er hatte keine Orientierung. Er saß da und schwelgte in Erinnerungen an jene Nacht in Chicago, an den warmen Kuchen in seinem einsamen Hotelzimmer.
Draußen wirbelte der Schnee. Eine Riesenparty sollte in New York stattfinden; wir wollten alle hin. Dean packte seinen ramponierten Koffer, warf ihn ins Auto und wir alle starteten in die große Nacht. Meine Tante war glücklich darüber, dass mein Bruder sie in der darauffolgenden Woche besuchen wollte; sie saß über ihrer Zeitung und wartete auf die mitternächtliche Silvester-Radiosendung vom Times Square. Über Glatteis schlitternd, brausten wir nach New York. Ich hatte nie Angst, wenn Dean am Steuer saß; er behielt den Wagen in jeder Situation unter Kontrolle. Das Radio war repariert worden, und ein wilder Bebop jagte uns durch die Nacht. Ich wusste nicht, wo das alles noch enden sollte, und es war mir egal.
Um diese Zeit quälte mich eine seltsame Geschichte. Die Sache war die: Ich hatte etwas vergessen. Da war eine Entscheidung, die ich hatte treffen wollen, bevor Dean aufkreuzte, und jetzt war sie mir einfach entfallen, hing aber noch irgendwo im Hinterkopf. Ich schnickte mit den Fingern, versuchte mich zu erinnern. Ich sprach sogar darüber. Und ich konnte nicht einmal sagen, ob es eine wirkliche Entscheidung war oder nur ein Gedanke, den ich vergessen hatte. Es verfolgte und verwirrte mich, es machte mich traurig. Es hatte was mit dem «Geheimnisvollen Wanderer» zu tun. Carlo Marx und ich hatten einmal zusammengesessen, Knie an Knie, auf zwei Stühlen, und uns in die Augen geschaut, und ich hatte ihm einen Traum erzählt, von einer sonderbaren Beduinengestalt, die mich durch die Wüste verfolgte, der ich auszuweichen versuchte, die mich schließlich einholte, kurz bevor ich die schützende Stadt erreichte. «Wer ist das?», fragte Carlo. Wir grübelten darüber nach. Ich sagte zögernd, ich könnte es selbst sein, eingehüllt in ein Leichentuch. Das war’s aber nicht. Irgendetwas, irgendjemand, ein Gespenst verfolgte alle von uns durch die Wüste des Lebens und musste uns einholen, bevor wir den Himmel erreichten. Sicher, wenn ich zurückblickte, kann dies nur der Tod sein: der Tod, der uns einholen wird, ehe wir in den Himmel gelangen. Das Einzige, wonach wir uns zeit unseres Lebens sehnen, was uns seufzend und stöhnend vorantreibt und süße Qualen aller Art ertragen lässt, ist die Erinnerung an eine verlorene Seligkeit, die wir vielleicht im Mutterleib erlebten und die nur (auch wenn wir es ungern zugeben) im Tod wiedererlangt werden kann. Aber wer will schon sterben? Daran musste ich im Wirbel der Ereignisse dauernd unterschwellig denken. Ich erzählte Dean davon, und er erkannte es sofort als die einfache schlichte Sehnsucht nach dem reinen Tod; und da wir alle kein zweites Mal leben werden, wollte er klugerweise nichts davon wissen, und damals gab ich ihm recht.
Wir machten uns auf die Suche nach der Clique meiner New Yorker Freunde. Die Blumen des Wahnsinns blühen auch hier. Zuerst fuhren wir zu Tom Saybrook’s. Tom ist ein trauriger, gutaussehender Junge, herzlich, großzügig und umgänglich; nur, dass er hin und wieder plötzlich in Depressionen versinkt und davonrennt, ohne jemandem ein Wort zu sagen. Diese Nacht war er hell begeistert. «Sal, wo hast du diese absolut phantastischen Typen aufgetrieben? Solche Leute hab ich noch nie gesehen.»
«Ich hab sie im Westen getroffen.»
Dean war groß in Form; er legte eine Jazz-Platte auf, schnappte sich Marylou, hielt sie fest und ging im Takt der Musik an sie ran. Sie ging mit. Es war der reinste Liebestanz. Dann kam Ian MacArthur mit einer riesigen Meute. Das Neujahrswochenende begann und sollte drei Tage und Nächte dauern. Ganze Horden drängten sich in den Hudson und schlidderten über die verschneiten New Yorker Straßen von einer Party zur anderen. Ich nahm Lucille und ihre Schwester zu der größten Party mit. Als Lucille mich mit Dean und Marylou zusammen sah, verfinsterte sich ihr Gesicht – sie spürte den Wahnsinn, mit dem die beiden mich ansteckten.
«Ich mag nicht, wenn du mit ihnen zusammen
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