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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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krachende Party steigen. Die alte Dame verzog sich nach oben, sie drohte die Polizei zu rufen. «Oh, halt doch den Mund, du alte Runzel!», brüllte Greb. Ich fragte mich, wie er mit dieser Frau unter einem Dach leben konnte. Er hatte mehr Bücher, als ich jemals im Leben gesehen hatte – zwei Bibliotheken, zwei Zimmer, bis an die Decke an allen vier Wänden mit Büchern vollgestopft, darunter Werke wie die apokryphen Sowieso-Schriften in zehn Bänden. Er ließ Verdi-Opern laufen und tanzte dazu Pantomime in seinem Pyjama, der einen langen Riss am Rücken hatte. Er scherte sich einen Dreck um alles. Greb ist ein großer Gelehrter, der durch die New Yorker Hafenviertel streicht, mit Original-Partituren aus dem siebzehnten Jahrhundert unter dem Arm und laut singend. Wie eine große Spinne krabbelt er durch die Straßen. Seine Begeisterung blitzte ihm aus den Augen wie Strahlen von einem teuflischen Licht. Er rollte den Kopf in spastischer Ekstase. Er stammelte, er verrenkte sich, er plumpste zu Boden, er stöhnte, er heulte, er ließ sich verzweifelt auf den Rücken fallen. Er brachte kaum noch ein Wort hervor, so begeistert war er vom Leben. Dean stand vor ihm, den Kopf über ihn gebeugt, und sagte immer wieder: «Ja … Ja … Ja …» Er zog mich in eine Ecke. «Dieser Rollo Greb, das ist der Größte und Wunderbarste von allen. Das ist das, was ich dir dauernd sagen wollte – so möchte ich gern sein. Ich möchte sein wie er. Er hängt nie durch, er verströmt sich in alle Richtungen, er lässt es heraus, er weiß, was Zeit bedeutet, er braucht nichts zu tun, als vor- und zurückzuschaukeln. Mann, er ist am Ziel! Hörst du, mach’s nur wie er, dann wirst du’s erreichen.»
    «Was erreichen?»
    «ES! ES! Ich sag’s dir noch – keine Zeit jetzt, jetzt haben wir keine Zeit.» Dean lief zurück, um weiter Rollo Greb zuzuschauen.
    George Shearing, der großartige Jazz-Pianist, sagte Dean, sei genauso wie Rollo Greb. An diesem langen verrückten Wochenende gingen Dean und ich auch zu Shearing ins Birdland. Das Lokal war menschenleer, wir waren, um zehn Uhr, die ersten Gäste. Shearing kam aufs Podium, blind, an der Hand zu seinem Keybord geführt. Er war ein distinguierter britischer Gentleman mit steifem weißem Kragen, das Gesicht leicht gerötet, blondes Haar, mit dem Fluidum einer milden englischen Sommernacht, das deutlich herauskam, als er die erste süß dahinperlende Nummer spielte, während der Bassist sich ehrfürchtig zu ihm hinüberbeugte und den beat schrummte. Der Drummer, Denzil Best, saß regungslos da und schlenkerte seine Besen aus dem Handgelenk. Und Shearing fing an zu schaukeln; ein Lächeln flog über sein verklärtes Gesicht; auf dem Klavierhocker fing er an zu schaukeln, vor und zurück, langsam zuerst, dann fing der Rhythmus an zu fliegen, und er schaukelte immer schneller, sein linker Fuß zuckte hoch bei jedem Takt, und sein Hals krümmte sich schaukelnd hin und her; das Gesicht jetzt tief über den Tasten, schob er sein Haar zurück, die aufgelösten Strähnen, und er fing an zu schwitzen. Die Musik wurde noch schneller. Der Bassist, tief gebeugt, ließ es dröhnen, schneller und schneller, jedenfalls kam es einem schneller und immer schneller vor, und das war’s. Shearing griff jetzt seine berühmten Akkorde; in satten Schauern rollten sie aus dem Klavier, man hätte meinen sollen, der Mann hatte gar nicht die Zeit, sie aneinanderzureihen. Sie rollten und rollten wie Wellen im Meer. «Go!», schrien die Leute. Dean schwitzte; der Schweiß lief ihm in den Kragen. «Er hat’s! Das ist er! Guter Gott! Guter Gott Shearing! Ja! Ja! Ja!» Und Shearing spürte den Irren hinter seinem Rücken, er hörte jeden von Deans Seufzern und Rufen, er nahm es wahr, auch wenn er’s nicht sehen konnte. «Ja, genau!», rief Dean. «Ja!» Shearing lächelte; er wiegte sich vor und zurück. Schweißgebadet stand Shearing vom Piano auf; das war damals seine große Zeit, 1949, bevor er cool und kommerziell wurde. Als er gegangen war, deutete Dean auf den leeren Klavierhocker. «Gottes verlassener Thron», sagte er. Auf dem Klavier stand ein Saxophon; sein goldener Schatten warf sonderbare Reflexe auf die Wüstenkarawane, die an die Wand hinter den Drums gepinselt war. Gott war fortgegangen; was er zurückließ, war Schweigen. Es war eine Regennacht. Es war der Mythos einer Regennacht. Dean fielen vor ehrfürchtigem Staunen die Augen aus dem Kopf. Dieser Wahnsinn würde ins Nichts führen. Ich wusste

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