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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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Apartmenthauses kam, zusammen mit ihrer Freundin, der Nachtklubbesitzerin, und einem schmierigen alten Mann mit einem Haufen Geld. Ursprünglich hatte sie nur die Freundin besuchen wollen. Jetzt sah ich, was für eine Hure sie war. Sie wagte nicht, mir ein Zeichen zu geben, obwohl sie mich vor dem Haus stehen sah. Sie kam angestöckelt und stieg in den Cadillac, und weg waren sie. Ich hatte niemanden mehr, nichts.
    Ich lief umher und sammelte Kippen von der Straße auf. Ich kam an einem Fisch-Diner in der Market Street vorbei, und die Frau drinnen sah mich, als ich vorbeiging, mit einem verängstigten Blick an; sie war die Besitzerin und dachte anscheinend, ich käme mit einer Waffe und wollte den Laden ausrauben. Ich ging ein paar Meter weiter. Plötzlich kam mir die Idee, dies sei vielleicht meine Mutter vor ungefähr zweihundert Jahren in England und ich ihr Sohn, ein Straßenräuber, frisch aus dem Kerker entlassen, um sie bei ihrer ehrlichen Arbeit in ihrer Fischküche heimzusuchen. Ich blieb auf dem Bürgersteig stehen, starr vor Ekstase. Vor mir sah ich die Market Street. Ich wusste nicht mehr, war sie es, oder war es die Canal Street in New Orleans: sie führte hinunter zum Wasser, zum trügerischen Wasser der Welt, ähnlich wie die 42nd Street in New York zum Wasser führt, und man weiß nie, wo man ist. Ich dachte an Ed Dunkels Geist auf dem Times Square. Ich phantasierte. Ich wollte zurück, wollte meine sonderbare Mutter, diese Dickens-Gestalt, in ihrer Fischbude anstarren. Ich zitterte am ganzen Leib. Es schien, als führten alle meine Erinnerungen zurück ins England von 1750, als wäre ich hier in San Francisco nur in einem anderen Leben, in einem anderen Körper. «Nein», schien die Frau mit diesem verängstigten Blick zu sagen, «du sollst nicht wiederkommen und deine ehrbare, hart arbeitende Mutter quälen. Du bist nicht länger mein Sohn – du bist wie dein Vater, mein erster Mann. Der freundliche Grieche hier hat sich meiner erbarmt.» (Der Besitzer der Imbissbude war ein Grieche mit behaarten Armen.) «Du bist ein Taugenichts, du neigst zur Trunksucht und Ausschweifung und bringst mich schändlich um die Früchte meiner demütigen Arbeit hier in dieser Fischküche. Oh, Sohn! Hast du niemals auf Knien um Vergebung für all deine Sünden und Missetaten gebetet? Verlorenes Kind! Hebe dich hinfort! Verfolge nicht meine Seele; ich habe wohlgetan, dich zu vergessen. Bohre nicht in alten Wunden, ach, wärst du doch nie zurückgekehrt, hättest du doch nie zu mir hereingeblickt, die Demütigungen meiner Arbeit, meine wenigen zusammengescharrten Pennys zu sehen – gierig nach Raub, flink bei der Hand, du verworfener ungeliebter niederträchtiger Sohn meines Fleisches. Sohn! Sohn!» Ich musste an meine Vision in Graetna denken, wo ich mit Old Bull beim Pferdewetten auf Big Pop setzen wollte. Und einen Moment lang hatte ich den Punkt der Ekstase erreicht, den ich immer hatte erreichen wollen, den vollendeten Schritt über die Schwelle der chronologischen Zeit hinüber in zeitlose Schattenwelten, mit diesem Staunen über die Trostlosigkeit im Reich der Sterblichen und dem Gefühl, dass der Tod mir im Nacken saß und mich vorantrieb, auch er von einem hartnäckigen Phantom getrieben, während ich zu der rettenden Planke jagte, wo alle Engel sich in die Lüfte schwangen und aufflogen ins heilige Nichts der unerschaffenen Leere, wo ein mächtiges und unvorstellbar strahlendes Licht in der hellen Essenz des Geistes leuchtete, wo unzählige Lotosgärten im magischen Schmetterlingsschwarm des Himmels ihre Blüten öffneten. Ich hörte ein unbeschreibliches brodelndes Brausen, das nicht in meinen Ohren war, sondern überall, und es hatte nichts mit Geräuschen zu tun. Ich erkannte, dass ich gestorben und unzählige Male wiedergeboren worden war, mich aber nicht daran erinnern konnte, vor allem, weil die Übergänge vom Leben zum Tod und wieder ins Leben so unheimlich leicht vonstatten gingen, ein magisches Handumdrehen, als schliefe man Millionen Mal ein und erwachte wieder, und dies ganz beiläufig, ohne sich dessen im Geringsten bewusst zu sein. Ich erkannte, dass es nur in der Stabilität des wahren Bewusstseins solche Wellenbewegungen von Tod und Geburt geben konnte, wie der Hauch des Windes, der auf eine reine, klare, spiegelnde Wasserfläche trifft. Ich empfand eine süße schwingende Seligkeit, sie war wie ein Schuss Heroin in die Hauptschlagader, wie ein Schluck Rotwein am Abend, der dir einen Schauer

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