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Unterwegs

Unterwegs

Titel: Unterwegs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Kerouac
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Dinger zu verkaufen?»
    «Nein», sagte Dean, «ich hab einen anderen Job in Aussicht.»
    «Oh, und was haben Sie mit all den Mustern vor?»
    «Weiß nicht.» In tödlichem Schweigen sammelte der Vertreter seine traurigen Töpfe ein und verschwand. Mir hing das alles zum Halse raus, und Dean ging’s genauso.
    Aber eines Abends packte uns wieder der Wahnsinn; wir wollten Slim Gaillard hören, in einem kleinen Nachtklub in Frisco. Slim Gaillard ist ein hochgewachsener schlanker Schwarzer mit riesigen traurigen Augen, der dauernd sagt: «Genau-hau-hau» oder «Wie wär’s mit einem Bourbon-oroni?» In Frisco saßen ihm die jungen Halbintellektuellen in Scharen zu Füßen, wenn er am Klavier, auf der Gitarre oder den Bongos aufdrehte. Wenn er sich warmgelaufen hat, zieht er sein Hemd und sein Unterhemd aus und legt richtig los. Er macht und sagt die letzten Sachen, die ihm so in den Sinn kommen. Zum Beispiel singt er: «Betonmixer-putt-putt», und plötzlich verschleppt er den Rhythmus und brütet über den Bongos und streichelt nur mit den Fingerspitzen das Fell, während alles den Atem anhält und lauscht; du glaubst, das macht er vielleicht ’ne Minute lang oder so, aber nein, er macht weiter, manchmal eine Stunde lang, unhörbar leise Geräusche, nur mit den Fingerspitzen und immer leiser, immer winziger, bis nichts mehr zu hören ist und der Verkehrslärm durch die offene Tür hereindringt. Dann richtet er sich langsam auf und nimmt das Mikrophon und sagt bedächtig: «Wunderbaroni … Sehr gut-oruti … Hallo-oroni … Nimm einen Bourbon-oroni … He, Leute-oroni … Was machen die Typen da vorn mit den Mädels-oroni … Oroni … Oroni … Ovuti … Oronironi …» Das hält er fünfzehn Minuten lang durch, und seine Stimme wird immer leiser, bis man sie nicht mehr hört. Seine traurigen großen Augen streicheln das Publikum.
    Dean steht im Hintergrund und sagt: «Gott! Ja!» – und faltet die Hände zum Gebet und schwitzt. «Sal, dieser Slim weiß, was Zeit bedeutet, er kennt sie, die Zeit.» Slim setzt sich ans Klavier und schlägt zwei Töne an, zwei C, und noch einmal zwei, dann eins, dann zwei, und plötzlich erwacht der große dicke Bassist aus seinem Tagtraum und kapiert, dass Slim den C-Jam-Blues anstimmt und hackt mit seinem dicken Zeigefinger in die Saiten, und wummernd steht der satte Rhythmus im Raum, und alle rocken mit, und Slim schaut immer noch so traurig drein, und eine halbe Stunde jazzen sie drauflos, und dann hebt Slim ab, er nimmt die Bongos und schlägt wahnsinnig schnelle kubanische Rhythmen und schreit irres Zeug auf Spanisch, Arabisch, Ägyptisch, in einem peruanischen Dialekt, in jeder Sprache, die er kennt, und er kennt viele Sprachen. Schließlich ist dieser Set vorbei; jeder Set dauert bei ihm zwei Stunden. Slim Gaillard tritt ab und lehnt sich an einen Pfosten und blickt traurig über die Köpfe der Menge, während Leute kommen und mit ihm reden wollen. Man drückt ihm einen Bourbon in die Hand. «Boubon-oroni … Danke-ovuti …» Niemand weiß, wo Slim Gaillard im Geiste ist. Dean hatte einmal einen Traum, er sollte ein Baby kriegen, sein Bauch war blau geschwollen, er lag auf dem Rasen vor einem kalifornischen Krankenhaus. Unter einem Baum, in einer Gruppe von Schwarzen, saß Slim Gaillard. Dean sah ihn mit den flehenden Augen einer Mutter an. Slim sagte: «Los geht’s-oroni.» Und jetzt ging Dean zu ihm hin, näherte sich seinem Gott; Slim war sein Gott; er scharrte mit den Füßen und verneigte sich vor ihm und bat ihn zu uns an den Tisch. «Genau-oroni», sagte Slim; er setzt sich zu jedem an den Tisch, aber er kann nicht garantieren, dass er im Geiste da sein wird. Dean besorgte uns einen Tisch, bestellte Drinks und hockte dann steif vor Slim auf dem Stuhl. Slim schaute träumend über ihn weg. Jedes Mal, wenn Slim «Oroni» sagte, sagte Dean «Ja!» Ich saß bei diesen beiden Verrückten. Nichts passierte. Für Slim Gaillard war die ganze Welt ein einziges großes Oroni.
    In derselben Nacht erlebte ich Lampshade an der Ecke Fillmore und Geary Street. Lampshade ist ein schwerer schwarzer Typ, der in Mantel, Hut und Schal in die Musikkneipen von Frisco kommt und aufs Podium steigt und zu singen anfängt; auf seiner Stirn schwellen die Adern an; er beugt sich rückwärts und bläst einen gewaltigen Nebelhorn-Blues, den er aus allen Fasern seiner Seele holt. Und während er singt, brüllt er den Leuten zu: «Sterbt nicht nur weil ihr in den Himmel wollte, fangt

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