Unterwelt
als Geheimnis vorzustellen, einen langen, unbeleuchteten Tunnel ohne Ende. Das war mein elender Versuch, unsere Ratlosigkeit im Angesicht von Gottes Unermeßlichkeit zu begreifen. Das respektierte ich an Gott. Er bewahrt sein Geheimnis. Und ich versuchte, mich Gott über sein Geheimnis, seine Unergründlichkeit zu nähern. Vielleicht können wir Gott durch Liebe oder durch das Gebet erkennen oder durch Visionen oder LSD, aber durch den Intellekt können wir es nicht. Das sagt uns Die Wolke. Und so lernte ich, die Macht der Geheimnisse zu respektieren. Wir nähern uns Gott über seine Unerschaffenheit. Wir sind gemacht, geschaffen. Gott ist unerschaffen. Wie können wir auch nur versuchen, solch ein Wesen zu ergründen ? Wir kennen ihn nicht. Wir bestätigen ihn nicht. Statt dessen halten wir in Ehren, was ihn leugnet. Wir elenden Schwächlinge, verstehst du. Und wir versuchen, einen nackten Vorsatz zu entwickeln, der uns auf die Vorstellung von Gott fixiert. Die Wolke empfiehlt uns, diesen Vorsatz aus einem einzigen Wort zu entwickeln. Oder besser noch, aus einem einzigen Wort mit einer einzigen Silbe. Das hat mich sehr fasziniert. Diese Suche nach dem einen Wort, der einen Silbe ließ mich nicht mehr los. Das war romantisch. Das Mysterium Gottes war romantisch. Mit diesem Wort würde ich jede Zerstreuung ausmerzen und mich näher an das unergründliche Selbst Gottes herantasten können.«
»Was für ein Wort?«
»Ich habe gesucht. Ich habe darüber nachgedacht. Ich habe es ernst genommen. Ich war jung.«
»Herz wäre ein Wort. Aber nicht für dich. Zu viel Sülz für dich«, sagte sie.
»Hilf! wäre ein Wort. Aber selbst für einen Schwächling war das ein bißchen jämmerlich. Da dachte ich, die Sprache ist das Problem, ich muß die Sprache wechseln, um ein Wort zu finden, das reines Wort ist, ohne ein Leben voller Konnotationen und Schattierungen. Und ich dachte an das italienische Wort für Hilfe, weil mein Vater es immer benutzte, wenn wir ihn ärgerten, mein Bruder und ich, dann schlug er die Hände zusammen und wiegte sie hin und her und rollte die Augen gen Himmel und sagte: Aiuto. So, wie es sein eigener Vater oder Großvater wahrscheinlich immer getan hatte. Ein Wort, das die Dunkelheit durchdringt. Aiuto.«
»Zu viele Silben.«
»Zu viele Silben und zu komisch. Weil er es eigentlich nur brachte, um uns zum Lachen zu bringen, um uns durch Lachen abzulenken. Mein Vater konnte vielleicht zwanzig Wörter auf italienisch, was weiß ich, er wurde hier geboren, vielleicht sprach er die Sprache auch ziemlich gut, ich weiß es wirklich nicht. Aber dieses Wort brachte er. Er machte es zu einem Stück mit drei Akten, so wie er es brachte, in die Länge zog, krächzend wie ein vergifteter Herzog. Ei-juh-too. Und wir lachten, weil er sich auf einer bestimmten Ebene über die alte Heimat und die alten Verschrobenheiten lustig machte. Ein großartiges, tiefes Wort, aber ich konnte es nicht brauchen.«
Es war seltsam, aber sie griff jetzt nach unten und nahm meine Hand und schob sie auf der Innenseite ihres Schenkels hoch und schmiegte sie irgendwie schützend zwischen ihre Beine, rutschte dann hin und her, um es sich so richtig gemütlich zu machen, wie ein Kind, dem man eine Geschichte erzählt.
»Wo ist dein Vater jetzt?«
»Tot.«
»Wo ist dein Bruder?«
»Keine Ahnung.«
Sie wartete, daß ich fortfuhr.
»Aber ich wußte, es war richtig gewesen, das Englische aufzugeben. Und schließlich stieß ich auf einen Satz, der von nacktem Vorsatz nur so zu strotzen schien. Von etwas, das ich aus eigener Erfahrung kannte und fühlte. Ein wunderschönes, spontanes Gebet. Fünf Silben, aber was soll's. Drei Worte und fünf Silben, aber ich wußte, ich hatte den Satz gefunden. Er stammt von einem anderen Mystiker, einem Spanier Johannes vom Kreuz, und in diesem einen Winter war der Satz meine offene Wunde, so habe ich mich hineingewunden in die Dunkelheit, in Gottes Geheimnis. Und ich wiederholte ihn immer wieder, immer wieder, immer wieder. Todo y nada.«
»Todo y nada.«
»Ja. Und was fällt dir dazu ein? Worauf bezieht es sich in deinem Leben? Was beschreibt es?«
»Sex«, sagte sie sofort. »Den besten Sex. Todo y nada.«
» Ja, genau.«
»Was willst du also sagen?«
»Ich sage nicht, Sex ist unsere Gottheit, ich bitte dich. Nur, daß Sex unser einziges Geheimnis ist, das sich einem leidenschaftlich erhabenen Zustand annähert und das wir miteinander teilen, das zwei Menschen mehr oder weniger wortlos und
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