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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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er verdarb ihnen den ganzen Spaß. Er konnte spüren, wie sich der Saal bis nach oben auf die billigen Plätze abkühlte, wo seine Teenagerfans, über dem Geländer hängend, auf eine abschließende Ekelpointe warteten – irgendein episches Kotzfinale.
    »Sie hat überhaupt nie in einem Bordell gearbeitet«, sagte Lenny. »Sie hat nie ihr Höschen runtergelassen und auch nie Rauchringe aus ihrer Muschi geblasen. In Wirklichkeit kommt sie nicht mal aus San Juan, Baby.«
    Er sagte nichts lieber als San Juan. Und, ja, er löste die ganze Struktur auf. Er spürte ihre Verblüffung und konnte es ihnen nicht verdenken.
    »Machen wir sie doch menschlich. Sie ist real wie wir. Nehmt am besten mal die U-Bahn in die South Bronx, wo sie bei ihrer Junkie-mutter wohnt, die keinen Pieps zu irgendwas sagt. Die Kleine ist gerade so alt, daß sie langsam den Männern auffällt. Ihre Mutter kommt und geht. Verschwindet, kommt wieder. Telefongesellschaft schaltet das Telefon ab. Hausbesitzer taucht auf. Beziehungsweise schiebt Räumungsbescheide unter der Tür durch, weil man ihn eigentlich gar nicht zu sehen kriegt. Er ist eine Gesellschaft namens XYZ-Immobilien, Briefkastenfirma in Grönland. Das Mädchen versteckt sich in Trümmerland, auf den Lots, in dem Labyrinth der Seitenstraßen, weil ihre Mutter wieder weg ist und sie denkt, der Hausbesitzer will sie verhaften lassen. Machen wir sie menschlich. Geben wir ihr einen Namen.«
    Aber ergab ihr keinen Namen. Ihm fiel kein Name ein. Kein echter Name. Statt dessen wärmte er ein paar alte Witze wieder auf. Er erzählte einen Schwiegermutterwitz, und sie lachten, er war auch wirklich witzig. Er erzählte einen jüdischen Mammewitz, noch besser, und sie waren begeistert, sie lachten, und er rackerte sich wieder in Form, tippte Rasse, Sex, Religion an, das war witzigster und provokativster Lenny Bruce, und schließlich endete der Abend mit donnernden Wellen von Gelächter und Applaus, mit ausgelassenen Schreien von den Jugendlichen in den oberen Reihen, und er stand mit seinem dämlichen weißen Anzug auf der großen Bühne, klein und reuevoll, und dann drehte er sich um und ging auf die Seitenkulissen zu.
    9. NOVEMBER 1965
    Stunden später lief ich immer noch. Ich ging stracks an meinem Hotel vorbei und weiter geradeaus, es war ein unscheinbares Gebäude nicht weit vom Times Square, wo sie mir eine Kerze geben und die Tür zum Treppenhaus zeigen würden, aber ich wollte weiter zu Fuß gehen, und wo ich nur vier Etagen würde hochsteigen müssen, aber ich wollte in die Nacht hineinlaufen und mir diese Sache ansehen.
    Ich sah Taxis, die ihre »Außer Dienst«-Zeichen eingeschaltet hatten, aber die Leute nahmen sie trotzdem, sie machten einfach die Türen auf und stiegen ein, denn die Taxis waren Gefangene des Verkehrs und konnten nicht ausweichen und davonschießen, und ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch und ging eine Zeitlang ostwärts und kam in der Nähe der Public Library an einer großen Menschenmenge vorbei, und irgendwann begriff ich, daß es sich um eine Bushaltestelle handelte, sechs- oder siebenhundert Leute an einer Bushaltestelle, mindestens so viele, auf einem Haufen und mehr oder weniger gesittet, auf den Bürgersteig gedrängt und bis auf die Treppe zur Bibliothek, der Wind peitschte die Fifth Avenue entlang, und sie warteten auf den Bus.
    Ich hatte keinen Mantel. Mein Mantel war in Evanston, Illinois. Ich rutschte tief in meine Jacke und sah Menschen, die über die Queensboro Bridge liefen, sie übernahmen die Brücke geradezu, sie liefen in Reihen von acht oder neun, vielleicht fünfzig Reihen, gefolgt von einer Kette kriechender Autos, dann wieder eine Menge Fußgänger, und sie liefen nach Hause, nach Queens.
    Da kam mir der Gedanke, und ich spürte einen Stich des Bedauerns.
    Ich ging zum Abendessen in ein von Kerzen beleuchtetes Restaurant in den siebziger Straßen, wo ich zu drei anderen gesetzt wurde, weil heute abend alle die Tische miteinander teilten. Es gab natürlich nur ein Thema, jedenfalls eine Zeitlang, und wir überlegten, wie weit sich der Stromausfall wohl erstrecke und ob es Sabotage sei, und jemand sagte, ein Verlagslektor mit Fliege, so heiße ein früher Hitchcock-Film mit Sylvia Sidney, und er spulte zwanghaft den Rest der Besetzung herunter – ein Film, der damit anfängt, daß der Strom ausfällt. Wir ließen Dessert und Kaffee weg, mit Rücksicht auf die Wartenden, und ich genehmigte mir einen Drink in einer nahegelegenen Bar und dachte,

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