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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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Jerry hatte recht, Jerry Sullivan, das war der Stich, das Schuldgefühl – wir hätten heute abend in die Bronx fahren sollen Jerry und ich, oder gar nicht erst versuchen, ein Taxi zu kapern, sondern den ganzen Weg zu Fuß gehen, eine verrückte, sentimentale Aktion, eine Expedition durch eine dunkel und kalt gewordene Stadt.
    Aber dann dachte ich, Quatsch, nein, vergiß es – wir hätten unterwegs das Interesse verloren oder wären in ein Handgemenge mit Plünderern und Räubern geraten oder einfach müde geworden, oder Jerry zumindest, und was dann?
    Ein Mann regelte mit einer zusammengerollten Zeitschrift den Verkehr, ein ziemlich beleibter, aber lebhafter Mann, gut auf den Beinen, er hüpfte hin und her und kümmerte sich um den Riesenkuddelmuddel in der 86. Straße, kümmerte sich einen feuchten Kehricht um die trötenden Hupen und gab mit extravaganter Gestik hundert Signalzeichen in einem Überzieher mit Samtkragen, sein glänzender Stock blitzte auf, und die Leute blieben stehen, um ihm zuzusehen, und seine Darbietung, bewußt und gewandt, wenn auch mit Theaterrüschen verziert, seine Darbietung wurde von einem großen, inbrünstigen Gefühl begleitet, das sich unter den Passanten ausbreitete.
    Aber irgendwie wäre es auch umwerfend gewesen und wunderschön, dachte ich, ganz Manhattan hochzulaufen und in die Bronx hinein, als Geste, als Gedenken, bis in unsere alte Wohngegend, ausgerechnet heute nacht, da die Welt zusammenbrach, aber was hätten wir nach unserer Ankunft gemacht, um zwei Uhr morgens?
    Die Leute waren unterwegs und hörten Transistorradio, denn es gab einige Sender mit Notaggregaten, und Männer, die sich Kopftücher umgewickelt hatten, standen herum und verkauften Taschenlampen und Kerzen, und in Tausenden von Wohnungsfenstern standen Kerzen, und vor den Billigläden standen die Leute Schlange nach Kerzen, und an jeder zweiten Ecke standen sie Schlange an den Telefonzellen.
    Das Stromnetz weg. Was bedeutete das? Das ganze Leitungssystem zusammengebrochen. Oder vielleicht nicht ausreichend vernetzt. Sylvia Sidney im Dunkeln.
    Von bestimmten Punkten aus gesehen war die Stadt eine einzige Gespenstersilhouette, geheim und in sich gekehrt, ihr Neon-Ego abgeschaltet. Heute nacht gab es einen Himmel. Die Türme jenseits des Parks wirkten flau, nächtlicher Samt, eine tödliche Radierung ohne jene statische Aufladung, die das Zucken wilder Nächte auslöst.
    Ich hörte Trommeln, Trommelschläge, nicht Stakkatowirbel, eher Handtrommeln, dumpf und weichhäutig, aus dem Park.
    Ich war ein Fremder hier. Ich kannte Manhattan nur auf oberflächlich, anfallsweise, und fühlte mich ein bißchen isoliert, Manhattan erschreckte mich mit seiner Schlauheit, seiner Stegreif-Prahlerei, einem Stil in Geisteshaltung und Aufzug, der womöglich schwerer zu lernen ist als irgendein Dialekt aus dem Transvaal. Jeder wußte dieselben wichtigen Sachen. Aber es konnte Jahre dauern, bis man mit der Liste durch war, und in der Zeit konnte sich die Länge der Liste oder die ganze Liste schon wieder verändert haben.
    Sie kamen an der 90. Straße aus dem Park, eine Hippiegruppe marschierte mit brennenden Kerzen, mit Flöten, Trommeln und Tambourinen, etwa fünfzig singende Menschen, ein Mann, der sich eine Nadel durch die herausgestreckte Zunge gestochen hatte, und eine Frau mit einer Schlange um den Hals und ein beißender, rauchiger Dunst, der nach kollektivem Übermut roch, und Kinder, die mitrannten, und Säuglinge in Rucksäcken und Tragegurten, und die Marschierenden sangen eine irgendwie gesummte Silbe, irgendwas Nasales, für mich klang es wie Bomb, eine Vibration im trächtigen Ton des Gebetes, noch und noch wiederholt, aber so ein unheilvolles Wort würden sie doch nicht singen, oder, mit den Kleinkindern vor der Brust und auf dem Rücken.
    Und vielleicht hatte Jerry recht gehabt. Ich hätte ihn einfach nicht ablehnen dürfen. Diesen enormen Plan, diesen Ausflug in die Bronx – ich hatte Schuldgefühle, weil ich mich davongestohlen und eine wunderschöne Idee verraten hatte.
    Ich beobachtete, wie die Marschierenden am Park entlang nach Süden zogen. Die Straßen wurden dunkler, immer weniger Verkehr und Scheinwerfer, und eine seltsame Ruhe setzte ein, gespickt mit Argwohn. Wie viele Tausende, Hunderttausende saßen in U-Bahnen fest oder hingen hoch oben in Fahrstühlen und warteten. Der ständig aufkeimende Verdacht, die Lähmung, unausgesprochen gegenwärtig in der Knopfdruck-Stadt, daß sie plötzlich stillstehen

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