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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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müssen zählen, messen und testen. Das ist die wissenschaftliche Methode. Wissenschaft. Die Beobachtung und Beschreibung von Phänomenen. Phänomene. Die durch Sinneswahrnehmungen erfaßbaren Dinge. Die Jahreszeiten haben einen Sinn. Zu einem bestimmten Zeitpunkt nimmt die Kälte ab, die Tage werden länger. Das geschieht jedes Jahr zur gleichen Zeit. In der letzten Stunde haben wir vom Unterschied zwischen Tagundnachtgleiche und Sonnenwende gesprochen, und bestimmt erinnern Sie sich noch daran, Miss Innocenti. Die Planeten bewegen sich in geordneter Weise. Wir können ihren Weg am Himmel vorhersagen. Und wir können die damit verbundene Mathematik bewundern. Die elliptische Umlaufbahn der Planeten um die Sonne. Ellipse. Ein leicht gestauchter Kreis. Hier entdecken wir Form und Ordnung, wir sehen die Gesetze der Natur in ihrer prachtvollen Harmonie. Denken Sie an den Rhythmus von Wellen. Die Geburt von Babys. Wenn eine Frau gebären soll, Applebaum, Augen nach vorn, dann sagen wir, ihre Zeit ist gekommen. Die Genauigkeit der Natur wird im Gebärvorgang deutlich. Die Frau geht durch mehrere Stadien. Der Fötus wächst und entwickelt sich. Wir können vorhersagen, wir können ungefähr sagen, diese Woche oder nächste Woche wird das Kind auf die Welt kommen. Ihre Zeit ist gekommen, Miss Innocenti, während Sie noch im Affentempo auf Ihrem Kaugummi herumkauen. Sie trägt den Fötus, bis ihre Zeit gekommen ist. Neun Monate. Sieben Pfund und sechzig Gramm. Wir brauchen Zahlen, damit die Welt sinnvoll wird. Wir denken in Zahlen. Wir denken in Jahrzehnten. Denn wir brauchen Organisationsprinzipien, Alfonse Catanzaro, jawohl, damit wir weniger verwirrt sind.«
    Aus den hinteren Reihen meldete sich eine Stimme. »Nennen Sie ihn Alan.«
    Eine Welle der Belustigung rauschte durch den Raum, wie Wind durch Dünengras. Bronzini hatte keine größeren Disziplinprobleme. Die Schüler spürten seine Abneigung, sich auf Konfrontationen einzulassen, und sie deuteten seinen gedankenversunkenen, milden, manchmal weit abschweifenden Stil als eine Art privater Flucht, ganz ähnlich der ihren, vor den Pflichten des Tages.
    Eine zweite Stimme beim Fenster, ein Mädchen, mit gespielter Waschlappenstimme.
    »Nennt mich nicht Alfonse. Nennt mich Alan. Ich will Kinoschauspieler werden.«
    Eine tiefergehende Woge der Heiterkeit diesmal, und Bronzini tat der Junge leid, der schmächtige Alfonse, aber er maßregelte sie nicht, redete weiter, redete über den momentanen Übermut hinweg – der schmächtige, klägliche Alfonse, blaurot gefleckt von tragischer Akne.
    »Wir brauchen Zahlen, Buchstaben, Karten, Diagramme. Wir brauchen wissenschaftliche Formeln, um die Struktur der Materie zu begreifen. E gleich MC im Quadrat.«
    Er schrieb die Gleichung an die Tafel.
    »Wie kommt es, daß ein paar Kreidekritzel an einer Tafel, einige wenige schnörklige Zeichen die Gestalt der Menschheitsgeschichte ändern können? Energie, Masse, Lichtgeschwindigkeit. Protonen, Neutronen, Elektronen. Wie klein ist das Atom? Ich werde es Ihnen sagen. Wenn Menschen die Größe von Atomen hätten – denken Sie mal darüber nach, Gagliardi –, dann würde die Erdbevölkerung auf einem Stecknadelkopf Platz finden. Abgesehen von den Riesenmengen Energie, die in der Materie enthalten sind. Materie. Etwas, das Masse hat – fest, flüssig, gasförmig. Abgesehen davon, was passiert, wenn wir das Atom spalten und diese Energie freisetzen. Energie. Die Fähigkeit eines physikalischen Systems, Arbeit zu leisten. Ich möchte wissen, wie es kommt, daß ein paar Zeichen auf Schiefer oder auf einem Stück Papier, ein bißchen Schwarz auf Weiß, oder Weiß auf Schwarz, so viel Information enthalten und solche erschütternden Folgen mit sich bringen können. Abgesehen von der Energie, die sich im Atom konzentriert. Was ist mit der Energie, die in dieser Gleichung enthalten ist? Das ist die wahre Macht. Wie der Geist arbeitet. Wie der Geist identifiziert, analysiert und darstellt. Was für eine Schönheit und Macht. Was für Wunderwerke der Phantasie es braucht, um die komplexen Kräfte der Natur, all jene unsichtbaren, magischen Aktionen innerhalb des Atoms – um all dies mit einem Ping und einem Peng an der Tafel auszudrücken. Das Atom. Die Einheit der Materie, die als die Quelle der Kernenergie angesehen wird. Die Griechen des fünften Jahrhunderts vor Christus haben von dem Konzept des Atoms gesprochen. Vor Christus, Miss Innocenti. Und vor Kaugummi. Klein, klein, klein. Irgend

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