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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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sagte er.
    »Warum warum. Du willst Sex. Warum«, sagte George.
    Seit Jahren spielten die Kinder in den Höfen Verstecken, und es gab Würfelspiele um Nickels und Dimes, und an heißen Tagen machten die älteren Burschen schon mal ein Fäßchen auf und hoben einen, im Schatten stehend, und Frauen lehnten sich aus dem Fenster, um ein bißchen Luft zu schnappen und über das Gefluche zu meckern.
    »Du kannst dir diese Nadel in den Arm stechen? Mann, davor hab ich Schiß wie vorm Tod.«
    George lächelte. Er war glücklich. Er fegte seine Utensilien wieder in die Schublade und steckte sich eine Zigarette an und saß da, das Gesicht im Rauch.
    Sie redeten von dem Überfall, und nach einer Weile wurde der Ton wieder normal.
    »Muß los«, sagte Nick.
    »Mach's gut.«
    »Wir sehen uns bei Mike.«
    »Mach's gut«, sagte George.
    Nick bog in dem düsteren Durchgang ab und kam in einen kleinen Innenhof, wo Mülltonnen an der Wand standen, und er ging über die Hintertreppe nach oben und durch die schwere Metalltür in sein Haus.
    George hatte ihn ordentlich zurechtgestutzt. George hatte ihm eine Lektion über den Ernst des Lebens erteilt.
    Es geschah gegen Ende des Tages, als keiner damit rechnete. Das war natürlich ihre Absicht. Es geschah schnell und hart und unerwartet.
    Die Schwester wandte sich von der Tafel ab, an die sie das Schema eines Satzgefüges geschrieben hatte, die Kreidestruktur war so komplex und voller fortschreitender Anhänge, daß sie langsam aussah wie die Feuerleiter-Fassaden der Häuser, in denen die meisten Jungen und Mädchen lebten.
    Sie hielt gerade lange genug inne, um sie merken zu lassen, daß jetzt etwas kam, aber nicht lange genug, um sie erraten zu lassen, was es war.
    Dann sagte sie: »Alles in Deckung! Alles in Deckung! Alles in Deckung!«
    Einen ewigen Moment lang waren sie zu schockiert, um klar denken zu können. Schwerfällig, schockiert, blöd und stumm. Sie fingen an, von ihren Plätzen zu purzeln, Bücher runterzuwerfen und sich anzurempeln, zu den drei Wänden zu sausen, genau wie sie es eingeübt hatten, in der Hocke zu hüpfen wie Leute in Kartoffelsäcken.
    Die vierte Wand war die Fensterwand, die sollten sie meiden.
    Matty sah Francis X. Cavanaugh mit den Eiern gegen eine Tischecke rennen. Ein mitfühlender Stich durchzuckte seine Lenden.
    Und Schwester Edgars Stimme, die durch den Raum schrillte, runter und ducken, alles in Deckung, und die Kinder drängelten sich auf Position und gingen dann auf die Knie, Kopf auf den Boden, Augen geschlossen, Hände vors Gesicht zum Schutz gegen den Bombenblitz.
    Es dauerte sehr lange, bis sie in der richtigen Lage und reglos und still waren.
    Matty hielt den Kopf an die Unterkante der Garderobentür, die seinem Tisch am nächsten war. Er ging gerne in Deckung. Das gemeinsame Handeln hatte etwas Befriedigendes für ihn. Es war in Wirklichkeit gar nicht so anders, als mit zwei Klassenkameraden die Garderobentüren zu öffnen und zu schließen oder auf Schwester Edgars Fragen kollektive Antworten aus dem Katechismus aufzusagen. Er spürte, wie tröstlich Zahlen waren. Hier am Boden, in ungefähr derselben Lage wie die anderen fühlte er sich behaglich und sicher. Nach der anfänglichen Überraschung und Verwirrung waren jetzt alle ruhig. Das war die erste Regel beim Atomangriff. Ruhig bleiben. Reg dich nicht auf und reg keine andern auf. Eine weitere Regel, Nichts anfassen.
    Er verspürte eine seltsame Zugehörigkeit beim Alles-in-Deckung, eine Gemeinschaft im Gleichaussehen und Gleichtun, Kopf runter, Ellbogen angelegt, Schwänzchen in die Höh. Der Überfliegerjunge mit den zweiunddreißig Spielfiguren und den Millionen Billionen von Kombinationen drückte sich gern in die ihm angewiesene Nische, hörte auf Schwester Edgars Stimme, die alle Vorsichtsmaßnahmen und Befehle wiederholte, eine auf- und abjaulende Sirene im verschwommenen Dunst eines weiteren unauffälligen Tages.
    Ruhig bleiben.
    Nichts anfassen.
    Nicht ans Telefon gehen, wenn es klingelt. Toaster ausstöpseln. Kein Fahrzeug fahren.
    Ein Taschentuch dabeihaben, um es vor den Mund zu halten.
    In ihrer Gebetshaltung hätten sie irgendwer von irgendwo sein können. Die Gläubigen aus dem alten Samarkand, die sich vor ihrem Ajatollah verneigten. Es kam nur auf eines an, auf die unterwürfig flehende Bitte, auf die Verehrung der Wolke der Allmacht – vierzig sanft pochende Körper, an den Wänden aufgereiht.
    Sie befahl ihnen, an ihre gewohnten Plätze zurückzukehren. Sie standen

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