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Unterwelt

Unterwelt

Titel: Unterwelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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brennt.«
    »Mercurochrom«, sagte Matty.
    »Es frißt sich in die Wunde rein, macht sie sauber und brennt.«
    »Mercurochrom«, sagte Matty.
    Aber er wollte nicht, daß sein Bruder die Hand fallen ließ, daß er die Hand jetzt schon losließ.
    Klara stand auf dem Dach und beobachtete die Gewitterwolken, die sich bläulich und scharfkantig aufbauten, wie das Wetter an einer fernen Küste, ein Himmel, der zu üppig und wild schien, um hier vorbeizukommen.
    Das Kind spielte mit einem Nachbarskind auf einer Decke in der Nähe.
    Sie hatte die Wäsche abgenommen und in den Korb getan, war aber noch nicht so weit, schon wieder hineinzugehen. Der Wind gewann an Kraft, und sie sah überall in ihrer Umgebung Frauen auf den Dächern, die Kleider von schaukelnden Leinen abnahmen und unter geblähten Bettlaken durchtauchten, und andere Frauen zerrten an den Leinen, die kreuz und quer über Durchgängen, zwischen Fenstern und Wäschemasten gespannt waren, sie hörte es genau, das kreischende Lied alter Leinen, wenn sie durch die gerillten Felgen all der rostigen Räder liefen.
    Sie vermißte Alberts Mutter. Es war eigenartig, jetzt in das vordere Zimmer zu kommen, ein unbehaglicher, leerer Ort, zuerst das leere Bett und jetzt nicht mal mehr das, nur Bodenraum, der gefüllt werden mußte.
    Es war auch eigenartig, daß sie das Bett nicht hatten wegwerfen wollen, beide nicht. Wochenlang hatten sie es stehenlassen, hochgekurbelt zur Tageslichthöhe, für die Stunden, wenn sie gern ihre Augen geschlossen und die Sonne auf ihrem Gesicht gespürt hatte.
    Das Weiß ihres Nachthemds und ihrer Haare und die weißen Laken und die Laken, die sich auf den Dächern blähten, und die Frauen, die sie mit beiden Händen zu raffbarer Größe bändigten.
    Die ersten Tropfen fielen, dick und platschend.
    Sie war einmal hier oben gewesen, vor nicht allzu langer Zeit, im Grunde, um sich vor ihrem Leben zu verstecken, und hatte den jungen Mann gesehen, der auf der anderen Straßenseite an einer Laterne stand und rauchte.
    Die meiste Zeit, falls sie überhaupt an ihn dachte, sah sie ihn in Bewegung vor sich, sie dachte an rauhe Hände, die über ihren Körper fuhren, und den tief in seine Finger eingegrabenen Schmutz, sie dachte an die Wölbung seiner Schultern und die Art, wie er sie über seine geballte Faust hinweg ansah.
    Es hatte ihr gefallen, ihn bei der Laterne zu sehen, wie er zum Haus herüberschaute. Dann dachte sie darüber nach, und es gefiel ihr nicht mehr so gut. Aber das war das einzige Mal, daß sie ihn dort sah.
    Die beiden Kinder wollten nicht ins Haus gehen, aber der Regen kam immer näher.
    Er war ihr in gewisser Weise einfach erschienen, natürlich, nicht distanziert oder völlig fremd. Zuerst dachte sie, es wäre vielleicht ganz nett, ihn als den jungen Helden zu sehen, wie die Figur eines Bildungsromans, aber sie sah ihn nur in Bewegung vor sich und namenlos und nicht fiktional, etwas Kreisendes, Verwischtes, das irgendwo neben ihrer rechten Schulter schwebte – das Objekt, das ihr Hirn aus all der Lust und Feuchtigkeit kondensierte.
    Sie schaute über die Brüstung und sah drei Mädchen, die gegenüber auf den Eingangsstufen eines Hauses das Knöchelspiel spielten, das Mädchen mit dem Spielball saß reglos hingekauert, nur ihre Hand huschte hektisch zwischen den verstreuten Knöchelchen hin und her, und Klara hörte sie rufen, Dreier und Berührt und Hindernis, ein Streit brach aus, stahlhart und klar.
    Sie wollte nicht mehr, sie wollte weniger. Das konnte ihr Mann nicht begreifen. Einsamkeit, Distanz, Zeit, Arbeit. Irgend etwas da draußen, das sie unbedingt zum Atmen brauchte.
    Sie nahm den Wäschekorb mit zur Tür und ließ ihn drinnen stehen. Die umgebenden Dächer waren inzwischen so ziemlich leer, und das Jaulen der Wäscheleinen hatte aufgehört. Selbst aus dieser Höhe konnte sie das Klopfgeräusch erkennen. Eine Frau klopfte mit einem Penny ans Fenster, rief ihr Kind vom Spielen herein.
    Dann prasselte der Regen herunter. Klara nahm ihre Tochter hoch, raffte die Decke mit einem Arm und ergriff das andere Kind bei der Hand, und lachend rannten sie über das Dach, unterm rasenden Himmel.
    Beim Abendessen erzählte sie ihm, sie sei selbstsüchtig gewesen.
    »Ich glaube nicht, daß das stimmt«, sagte er.
    Er brach ein Stück knuspriges Brot auseinander, das tat er rituell und mit zutiefst verläßlicher Angewohnheit, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß er eine ganze Mahlzeit mit allen Vorgängen und Unterbrechungen

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