Unterwelt
stündlich computergestaltet. In ein paar Jahren würde dies der höchste Berg an der Atlantikküste zwischen Boston und Miami sein. Brian verspürte einen Stich der Erleuchtung. Er betrachtete all diesen hochfliegenden Müll und wußte zum ersten Mal, worum es bei seinem Beruf wirklich ging. Nicht Maschinenbau oder Transportwesen oder Müllvermeidung. Er machte Geschäfte mit menschlichem Verhalten, den Gewohnheiten und Antrieben der Menschen, ihren unbezähmbaren Bedürfnissen und unschuldigen Wünschen, vielleicht auch ihren Leidenschaften, ganz sicher ihren Exzessen und ihrer Genußsucht, aber auch ihrer Freundlichkeit, ihrer Großzügigkeit, und die große Frage lautete, wie ließ sich verhindern, daß uns dieser Massenmetabolismus unter sich begrub.
Die Aufschüttung zeigte ihm, auf den Punkt gebracht, wie der Müllstrom endete, wo jeder Appetit und jedes Verlangen und alle aufgequollenen reiflichen Überlegungen am Ende herausgeronnen kamen, all die Dinge, die man sich glühend wünschte und dann doch nicht wollte. Er hatte schon hundert Aufschüttungen gesehen, aber noch keine so riesige. Ja, beeindruckend und bedrückend. Er wußte, daß der Gestank garantiert mit dem Wind in jedes Eßzimmer im weiten Umkreis getragen wurde. Wenn die Leute nachts ein Geräusch hörten, dachten sie dann wohl, der Haufen bräche gerade über ihnen zusammen, rutschte auf ihre Häuser zu, ein alles verschlingender Kinohorror, der durch ihre Türen und Fenster drang?
Der Wind trug den Gestank über den Strom.
Brian holte tief Luft, füllte seine Lungen. Nach dieser Herausforderung sehnte er sich, dieser Attacke auf seine Selbstzufriedenheit und sein undeutliches Schuldgefühl. All das zu verstehen. Dieses Geheimnis zu ergründen. Der Berg war da, vor aller Augen, aber niemand sah ihn oder dachte darüber nach, niemand wußte, daß er existierte, außer den Ingenieuren und Lkw-Fahrern und Ortsansässigen, eine einzigartige kulturelle Lagerstätte, fünfzig Millionen Tonnen bis zu ihrer Vollendung, gemeißelt und modelliert, und niemand redete darüber außer den Männern und Frauen, die sie zu managen versuchten, und zum ersten Mal sah er sich selbst als Mitglied eines esoterischen Ordens, sie waren Eingeweihte und Seher, die an der Zukunft bauten, all die Städteplaner, Müllmanager, Komposttechniker und Landschaftsgestalter, die hier später einmal hängende Gärten bauen, eines Tages einen Park aus allen möglichen gebrauchten und verlorenen und abgenutzten Objekten der Begierde erschaffen würden.
Die größten Geheimnisse sind diejenigen, die offen vor uns liegen. Das war O-Ton Marvin Lundy, er erfüllte Brians Kopf mit seiner trockenen, statisch rauschenden Stimme, die aus einem chirurgischen Schlitz in seiner Kehle zu kommen schien.
Der Wind trug den Gestank von dem Berg des Untergangs fort.
Stäubchen und Schimmer, Farbfledder erschienen in der geschichteten Masse abdeckender Erde, Stoffetzen aus dem Garment District, die im Wind flatterten, oder vielleicht ist dieses grünblaue Ding ein Bikinihöschen, das mal einer Sekretärin aus Queens gehört hat, und Brian stellte fest, daß er eine Blitzverliebtheit heraufbeschwören konnte, sie hat dunkle Augen und liest die Regenbogenpresse und malt sich die Fingernägel an und ißt ihr Mittagessen aus geformten Styroporschalen, und sie bekommt von ihm Geschenke, und er bekommt von ihr Kondome, und all das endet hier, Druckerschwärze, Nagelfeile, Reizwäsche, von rumpelnden Bulldozern ins Hochrelief bugsiert – man denke nur an seine vielzähligen Sämlinge voller Familiengene für eine hohe Stirn, allesamt in einem kleinen Leichensack aus Gummi gestrandet und hübsch in die tiefsten Tiefen des Mülls untergewalzt.
Er beobachtete ein paar Möwen, die auf ihn zukurvten, und sah hundert andere, die sich auf einen Abhang gesetzt hatten, alle schauten in dieselbe Richtung, reglos, aufmerksam, vereint in Wachheit, in wunderschöner leerer Vogelheit, in Erwartung des Abflugsignals.
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4
M arvin war aus seinem Keller herausgekommen und zuckte im Licht zusammen. Er war ein hartnäckiger Autofahrer, suchte sich eine Fahrspur aus und blieb dabei. Er trug eine gelbbraune Windjacke mit Schottenkarofutter, denn die zog er immer an, wenn die Blätter sich verfärbten. Dieser getreue Kleiderwechsel, diese Anpassung an den Kosmos gab seinem Leben den Anschein von Regelmäßigkeit. Er trug die Jacke seit Jahrzehnten, gab die alte an die Heilsarmee und kaufte sich genau so eine in
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