Untitled
gerade Schulaufgaben machte, brü tete er über Büchern mit Testaufgaben und Übungen für die Eignungsprüfung. Wie alle seine Mitschüler hatte Ju lian im zweiten High-School-Jahr die Vorprüfung abgelegt und im letzten Jahr den ersten Hochschuleignungstest. Doch diese dritte Prüfung war die entscheidende, wie er mir erklärte, die große, bei der es um Bestehen oder Ab brechen, um Leben oder Sterben ging. Nach diesen Prü fungsergebnissen trafen die Colleges ihre En t scheidungen.
Ich hatte am Donnerstagabend versucht, ihn anhand der Übungsbögen ein bisschen abzufragen, aber es war keine a n genehme Aufgabe gewesen. Ich meine, wer stellte eigent lich diese Fragebögen zusammen? Zum Beispiel wurde eine Analogie g e fragt: Hübsch verhält sich zu korpulent wie schön zu … dick, häs s lich, attraktiv oder tot? Also, hing das denn nicht davon ab, ob man Korpulenz für attraktiv hielt? Mei ner Ansicht nach war es das, und das vertrat ich auch. Und wann, wollte ich wissen, benutzte man in alltäglichen Ge sprächen schon das Wort epigrammatisch ? Ich bin wirklich sehr für Lesen und die Erweiterung des Wortschatzes, aber, wie unsere Generation zu sagen pflegte, kommen wir doch zum Wesentlichen. Ich sagte Julian, diese Frage brauche er nicht zu wissen. Er stöhnte. Was mich allerdings geschafft hat war: »Mein Freund ist ein Philanthrop, deshalb … geht er mit seiner Familie in die Kirche, verschenkt er seine ganze Habe, bezahlt er seine Kreditkartenrechnungen oder spielt er das Glockenspiel.« Ohne Zögern erklärte ich Julian, dass er seine Kreditkar tenrechnungen bezahlt und vielleicht abends für die Nach barn auf dem Glockenspiel spielt. Julian schlug vor, ich sollte es lieber au f geben, ihn abzufragen, denn die richtige Antwort lautete: »ve r schenkt er seine ganze Habe«. Ich argu mentierte, wenn jemand hohe Zinsen für seine Kreditkarte bezahlen müsste, schädige er damit seine Familie und das sei schließlich der Bereich, auf den sich Philanthropie in erster Linie beziehen müsse. Julian schloss schweigend das dicke Buch. Ich entschuldigte mich umgehend. Das Lächeln, mit dem er mich bedachte, war verkniffen und iro nisch. Doch die Abfragestunde war vorbei. Als Julian sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, schenkte ich mir ver drossen einen Cointreau ein und machte die Maiskörner für das Popcorn fertig. Soviel zum Thema: Philanthropie beginnt zu Hause.
Dieser fromme Gedanke ging mir immer noch durch den Kopf, als ich am Morgen des Halloweentages den Bußku chen mit Glasur überzog und mich auf den Weg zur Kirche machte. Ein kurzer Flockenwirbel kündigte das Ende des Schneeschauers an. Von den nahen Bergen trieben Wol kenfetzen herauf. Auf dem Parkplatz vor der Kirche stan den nur zwei Autos: der blassblaue Honda der Sekretärin und ein funkelnagelneuer Jeep Wagoneer, der meiner Ver mutung nach den Marenskys gehörte – wer sonst hätte wohl ein Nummernschild mit dem Kennzeichen NERZ gefah ren? Pastor Olsons Mercedes 300 E war nicht zu sehen; er behauptete, er brauche diesen Allradantrieb, um Gemein demitglieder zu b e suchen, die abgelegen wohnten. Nun ja, unser Pfarrer war vermu t lich zu einer seiner Lieblingsbe schäftigungen unterwegs, einer Bergtour.
Als ich mit den ersten Schüsseln Obst durch die Kir chentür kam, rannte Brad Marensky mich fast um.
»Oh, Entschuldigung«, japste er und nahm mir eine schwankende Schüssel mit Orangenschnitten aus der Hand.
Während er sich um die Schüssel kümmerte, sah ich ihn mir genauer an. Der mittelgroße Brad war eine jüngere, bes ser au s sehende Ausgabe seines Vaters Stan. Er hatte das glei che lockige Haar wie dieser, nur war es bei ihm kohlraben schwarz und nicht grau meliert, er hatte die gleichen hohen Wangenknochen und das gleiche gut geschnittene Gesicht mit dem dunklen Teint, allerdings ohne die tiefen Sorgen falten. Er hatte auch die dunklen Augen seines Vaters. Ich konnte mir vorstellen, dass diese Augen bei mehr als einem Mädchen an der Elk-Park-Schule romantisches Interesse ge weckt hatten. Als Brad sich und die Schüssel fing und mir dann aus dem Weg trat, bewegte er sich wie ein Sportler. Selbst ohne Unterstützung durch die Sportredaktion des Mountain Journal waren Brads überragende Allround- Talente und der unablässige Drill seines Vaters stadtbe kannt. Die Mütter im Sportclub machten sich häufig über Stan Marensky berühmten Schrei lustig:
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