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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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Schubladen daraus keine Flammen entgegen, wie es im Wikipediaeintrag zur Schlaflosigkeit als Symptom aufgeführt wird. Auch sonst keinerlei Halluzinationen – wenn ich davon absehe, dass ich zusammenschrecke und verwirrt werde, sobald ich irgendwo eine kleine Frau mit kurzen Haaren zu sichten meine; oder wann immer ich ein Lachen höre, das mutig klingt und befreit. Oder jemand in gleich welchem Zusammenhang das Wort ausspricht: Julia. Oder, wie neulich Abend im Kronengrill, aus dem Fenster auf das neue Bürohaus schräg gegenüber deutet: Wie findest du eigentlich das Gebäude des jungen Speer?
    Das Zusammenschrecken eventuell (wobei das in den allermeisten Fällen auch schon scheiße aussieht), die Verwirrung, vor allem aber der vorherige Zustand, die seltsame Abwesenheit, die aus Schlaflosigkeit und dem Leiden am Schmerz des Vermissens entsteht – es ist eine Form der Depression, ganz gewiss, und wie will man die darstellen? Im Tischgespräch gestern hatte Katja von den Dreharbeiten mit Frank Giering erzählt, der in ihrem Film eine Figur verkörpert, die an Liebeskummer leidet. Wir alle verehren ihn. Katja hat nun zu erzählen, wie Frank Giering solche Gefühlszustände herüberzubringen schafft, ohne dass man ihm produktionsseitig mit Tricks zur Wirkung verhilft: Er hat diese immens hängenden Augenlider, sagt Katja. JederSchauspieler könnte ein Scharnier benennen, aus dem heraus er seine Kunst von der Person abhebt – bei Frank sind es die Lider. Umso interessanter, dass Romuald Karmakar mit ihm dieses Jon-Fosse-Buch verfilmt hat, das da heißt: Die Nacht singt ihre Lieder – mit i-e.
    Darüber lachen wir, noch, denn keiner von uns kann ahnen, dass Frank Giering drei Monate später an einem geplatzten Gefäß sterben würde. Sein Vater würde der einzige Zeuge seines Ablebens sein, bis der Notarzt endlich eintrifft, ist es bereits zu spät. Der hinterbliebene Vater wird den Boulevardzeitungen meines Verlagshauses ein Interview nach dem anderen geben, sodass die Einzelheiten genauestens dokumentiert worden sind: Demnach meldet Frank Giering im Rahmen einer nachmittäglichen Zusammenkunft mit dem Vater zunächst Unwohlsein, kurz darauf bläht sich sein Bauchraum auf (aufgrund innerer Blutungen), wenig später: Exitus. Frank Giering wird mit achtunddreißig, knapp neununddreißig Jahren sterben.
    In Katjas Film spielt Frank Giering einen weltberühmten Fotografen, der zum Arirang-Festival nach Pjöngjang gereist ist, um dort eins seiner aufwendigen Tableaus zu produzieren. Die ameisenhaft verwuselte Kulisse aus Tausenden Statisten, die extrem befremdliche Kultur der ausgebluteten Gesellschaft Nordkoreas sowie sein Jetlag umgeben ihn als Unwirklichkeit, in deren Mitte er sich wie das melancholische Auge eines zäh wirbelnden Sturms erlebt. Er ist verliebt. Unglücklich verliebt, wie man so sagt. Seine Liebe bleibt unerfüllt. Es gibt nicht allzu viele Regisseure auf der Welt, die solche Seelenzustände in Bildern erzählen können. Und obwohl ich mir nicht allzu viel aus Filmen mache, bin ich gespannt, wie Katja es löst. Persönlich rate ich beinahe generell zum Einsatz einer Off-Stimme, aber ich weiß eben auch, dass in Kreisen der Filmfreundedie Off-Stimme als Taschenspielerei diskreditiert wird (ausgerechnet in diesem Genre!) Ich erinnere mich an eine Auseinandersetzung mit Julius Grützke, der mir mit eben diesem Argument klarzumachen versuchte, weshalb es sich bei Casino um einen schlechten Film handeln soll: Eben weil es Martin Scorsese nicht gelungen sei, die Geschichte ohne einen stummen Erzähler zu – na ja: erzählen. Das wird dem Filmemacher dann seitens der Freunde des Films als Impotenz ausgelegt. Für gut befunden wird dagegen: im Dialog, oder wie es dann heißt, aus den Figuren heraus zu erzählen. Das würde im Falle Casino einen schätzungsweise doppelt so langen Film ergeben. Und Casino ist bereits lang. Casablanca hingegen ließe sich durch den verstärkten Einsatz der Off-Stimme problemlos raffen.
    Julius Grützke würde dann zwar behaupten können, hiermit würde dem Rest des Films jegliche Spannung genommen – egal. In meiner Szene, die im Morgengrauen vor dem Regal in Maxims Bibliothek spielt, erzählt die Stimme: Auch in dieser Nacht hatte er kein Auge zugetan. An die Schlaflosigkeit hat er sich in den letzten Wochen gewöhnt – soweit sich ein Mensch daran jemals gewöhnen kann. Doch etwas ist anders an diesem frühen Aprilmorgen des Jahres 2010: Anders als in den übrigen

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