Untitled
schlaflos durchwachten Nächten der letzten Wochen, war ihm der Grund für sein Wachliegen während dieser Nachtstunden fühlbar gemacht: Er hatte gespürt, wie Julia Speer, diese von ihm über alles geliebte Frau, die sich vier Wochen lang in klösterlicher Weltabgewandtheit hinter den Bergen vor ihm verborgen hatte, wie diese ihm kostbare und köstliche Frau nun in einem Schlafwagen liegend in die Peripherie Brandenburgs eingefahren wurde. Halle an der Saale war soeben passiert worden, es kommen jetzt Muldenstein am Schmerzbach und Bitterfeld – das Rattern der Eisenbahn über die Schwellen unter den Gleisen, es ist zu seinem Herzschlag geworden. Julia Speer war eine Schmetterlingspuppe; ein Trupp Ameisen transportierte sie in den Bau.
Die Montage zeigt eine schwarz-weiß gefilmte Europakarte, auf der eine Linie sich von den französischen Alpen aus über Genf und den Schwarzwald auf Berlin zubewegt; die unvermeidlichen Aufnahmen von Gleisen und Bahnschwellen und Radachsen und Abteilwagen in voller Fahrt.
Ich halte das iPhone in einer rechten Hosentasche umfasst wie einen Faustkeil und denke bittebittebitte! Das erste Vibrieren meldet eine EM ail aus der Geschenkabteilung des iTunes Stores betreffs: J hat dir ein iTunes-Geschenk gesendet. Dabei handelt es sich um Joga von Björk. Ich kenne das Stück, es befindet sich auf der Platte mit dem Cover von Alexander McQueen und ist auch sonst derart heftig, dass ich jedes Mal den Raum verlasse, wenn es läuft, um es mir sozusagen aus einem Sicherheitsabstand anzuhören; habe ich Ohrhörer drin, wenn der iPod es mir shuffelt, nehme ich zumindest einen der beiden Stöpsel heraus.
Ich bin dabei, eine Antwort einzutippen, da vibriert es erneut: Ich bin sehr froh, wieder hier zu sein! J
Und ich erst!, schreibe ich im Überschwang zurück (mein Herz klopft laut, dabei sind es nur Buchstaben).
Meinst du, wir sollten uns niemals wiedersehen? Erscheint als Nächstes auf dem Display.
Auf gar keinen Fall!
Wirklich nicht? Ihre Frage: Nie wieder?
Das kommt mir seltsam vor. Ich schubse die neuen Nachrichten über die Oberfläche des Displays, bis die fragliche erscheint: jemals steht dort. Nicht: niemals.
Meinst du, wir sollten uns jemals wiedersehen?
Ich bin dumm, da hatte sie damals schon recht. Schreibstdu dir mit deiner Schönen?, fragt Katja, die mit den Kindern im angrenzenden Zimmer erschienen ist.
Ich antworte übereifrig, das Missverständnis hat mich unter Stress gesetzt. Meine Antwort dürfte Klarheit schaffen, aber ihre Antwort darauf lässt auf sich warten. Duscht sie? Klar! Nach einer solchen Strapaze im Nachtzug duscht man doch erst mal und zieht sich komplett neu an. Wie lange duscht Julia denn so?
Warum telefoniert ihr eigentlich nicht, fragt Katja. Stimmt. Seltsam eigentlich, habe ich mich so noch gar nicht gefragt. Julia und ich haben eine selbstverständliche Kommunikationsstruktur – so erscheint es mir zumindest. Selbstverständlich vor allem, da sie sich entwickelt hat. Wir haben noch nie ein Wort darüber verlieren müssen – organisierenderweise –, alles kam wie von selbst. In den nächsten Wochen und Monaten würden wir zwar noch einige Kanäle alternativ zu SMS , EM ail und Telefongesprächen eröffnen und betreiben. Doch der Austausch von Getipptem über unsere iPhones, später auch unsere iPads, würde weiterhin den bei Weitem überwiegenden Teil unserer unendlichen Zwiesprache ausmachen. Anfang Juni würde ich interessehalber den Schriftwechsel ausdrucken, der dann mehrere Tausend Din-A4-Blätter bedecken wird. Es wird die Zeit sein, da das Erscheinen des dicken Prachtbandes der Firmengeschichte von Prada kurz bevorsteht. Und ich werde bei allen mit unseren Themen betrauten Redakteuren die Versandboxen der Vorabexemplare einsammeln und darin die Stapel loser Blätter verpackt nach Hause schaffen. Sieben dieser Schachteln aus mattschwarzer Pappe werde ich mit ausgedruckter EM ail befüllen. In den Kopfzeilen steht nie etwas anderes als: Untitled oder Ohne Betreff. Ich werde diese schweren Schachteln in zwei Schubladen meiner Kommode verstauen, die ich dannnämlich besitzen werde. Julias Kommentar, als ich ihr ein Foto der Briefstapel schicke: Kompletter Irrsinn. Danach drucken wir nie wieder aus.
Von meinem Platz auf dem Fenstersims zwischen den Regalen sehe ich durch ein Zimmer voller Sitzgelegenheiten in den übernächsten Raum auf die von Flügeltüren gerahmte Szene, in der Katja mit den beiden Kindern zu sehen ist, die den Tisch für
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