Untitled
Allerdings in die Höhe gezerrt und somit ganz schmal – ja: wenn die schreiende Figur in Edvard Munchs Bild eine Sprechblase hätte, dann sähe diese exakt so aus, wie dieses Organ der Seele in der rechten Seite meines Rumpfes. Dort spüre ich bei einsetzender Dämmerung einen dumpfen Schmerz, ein blind beharrliches Drücken gegen mein Innenleben, dem ich nur Abhilfe schaffen kann, wenn ich mir die Hand in die Beuge stütze und laut ausatme. Dazu kommt der gehirnliche Schmerz: mein Denken, das obsessiv um Julia kreist. Beileibe nicht zwanghaft, das wäre viel zu einfach, in einem Sinne von: leicht nachvollziehbar, bald auszublenden; es läuft raffinierter ab, nämlich so, dass meinem Bewusstsein auf unbestimmte Zeit ein Subchannel zur Verfügung gestellt wurde, in dem nichts anderes abläuft als Denken an Julia. An manchen Tagen sind das amorphe, sozusagen gesichtslose Denkströme, die ich lediglich als mit Julia befasst decodiere; Details oder konkrete Informationen sehe ich nicht. Dann gibt es Phasen, die ich als extrem anstrengend erlebe, in denen dieser Subchannel die Oberhand gewinnt über meine gesamten Hirnfunktionen und sozusagen Mainstream wird. Dann meine ich, Julia in der Menge zu erkennen, schrecke auf, wenn jemand in der Konferenz diesen Vornamen fallen lässt, etwas von einem länglich geformten Kriegsgerät namens Speer vorträgt, wenn es um Philosophie geht, umTomboys, Doc Martens und und und. An solchen Tagen ist mein Wahrnehmungsapparat mit verspiegelten Scheuklappen beschlagen. Aus den Kopfhörern dringt nur noch der Herzschmerz zu mir durch. Ich bin zu nichts anderem fähig, als auf dem Rücken herumzuliegen und mir die Seite zu halten. Die ganze Dauer des Embargos über schlafe ich so gut wie keine einzige Nacht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihr besser geht, doch ich weiß es nicht sicher, da sie schweigt. Charles Baudelaire vergleicht die Liebe mit einer Folter oder einer chirurgischen Operation – wahlweise. Er schreibt: Selbst wenn die beiden Liebenden voll äußerster Leidenschaft und voll wechselseitigem Verlangens wären, einer von beiden wird doch immer ruhiger oder weniger besessen sein als der andere. Dieser oder diese ist dann der operierende Arzt oder der Henker; der andere ist der Patient, das Opfer.
Ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass Julia meine Gehirnchirurgin ist – ohne Mundschutz bitte, bitte.
Ich stelle mir vor, wie Julia in navyfarbenen Jetskihosen über einen tief verschneiten Abhang schwingt. Ich stelle mir Julia vor.
So vergehen achtundzwanzig Tage.
Hinter den Bergen
Gleich ist es acht Uhr, aber der Sonnenaufgang lässt heute ungewöhnlich lange auf sich warten. Ich stehe vor einem Regal in Maxims Bibliothek und lasse meinen Blick, wie man es so schön nichtssagend sagt: ruhen auf den Rücken einer Reihe von Inleinengebundenen. Denn ich will wirklich: meine müden Augen ruhen lassen. Meine Lider fühlen sich geschwollen an und da ist dieses wohlige Brennen, immer dann, wenn ich sie zuklappe – allein der Schlaf will dann nicht kommen. Ich läge wach hinter geschlossenen Lidern. Angesichts dieser Komplexität verwundert es mich auch kein bisschen, dass Schlaflosigkeit – ebenso wie Depression – in Filmen nicht oder wenn, dann grundfalsch dargestellt wird – ich erinnere mich an einen namens Insomnia, in dem, glaube ich, Robert de Niro einen Polizisten spielt, der im nördlichsten Finnland ein Verbrechen aufklären muss. Auf jeden Fall hat er schon vor dem Antritt seiner Reise ein Schlafproblem, doch am Polarkreis oben wird es zur Erzählzeit nie dunkel und dadurch verschlimmert es sich – er schläft überhaupt nicht mehr. Aber, und mittlerweile kann ich kompetent mitreden: Wie soll man diesen Zustand darstellen? Die dunklen Halbmonde unter den Augen verstärken sich nach einer mehrtägigen Konsolidierungsphase nicht weiter dramatisch. In dem redaktionseigenen Schrank mit Warenproben der Kosmetikindustrie habe ich ein Produkt mit Wirkstoffen des weißenLotus gefunden, mit dem ich die dunklen Stellen mehrmals täglich bestreiche. Die Salbe heißt Belle de Jour. Dass ich im Stehen einschlafe, an einen Türrahmen gelehnt sogar, wie es in Filmen gezeigt wird, ist mir bislang, nach vier Wochen noch immer nicht passiert. Sekundenschlaf auf der Rückbank eines Taxis, aus dem ich durch den Schmerz meines ruckartig nach vorne gekippten Kopfes hochschrecke: klar. Aber das kam auch in Friedenszeiten vor. Noch immer schlagen mir beim Öffnen von
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