Untitled
dann sehen Sie doch an der Vorderseite, rund um die Augenhöhlen dort – Ich finde, dass diese Person sich umständlich ausdrückt. Also unterbreche ich jetzt, schließlich bin ich der Patient: Wir können das abkürzen, ich verstehe etwas von Anatomie. Sagen Sie mir doch einfach, wie es jetzt weitergeht.
Ich spüre, wie die Hand reglos bleibt auf meiner Brust. Und dann: Sie gehen mir bereits derart auf die Nerven, mit Ihnen will ich gar nicht mehr reden.
Als ich meine Augen wieder öffne, ist er nicht mehr da. Wo ist mein Fahrrad?
Wo ist mein Zeug?
Da ist ein Schlauch aus klarem Plastik, der in eine Kanüle mündet, die unter dem hochgeschobenen Ärmel meines blauen Sweatshirts kurz unterhalb der Armbeuge in der Innenseite meines Unterarms steckt. Ein vertrauter Anblick. Ich war noch nie im Krankenhaus, aber ich habe so viele Filme gesehen, in denen jemand im Krankenhaus liegt.
Und: Da ist etwas dran, die Person im blauen T-Shirt hat recht, die eine Hälfte meines Gesichts, die Kanülenseite ist gefühllos. Diese Gesichtsseite ist zudem geschwollen, die Haut spannt, und als ich dort das Auge ertasten will, bleibt etwas Klebriges an meinen Fingerspitzen.
Unfall, Totenkopf, Gesicht gebrochen – das Fahrrad: mein Gehirn! Ich denke an meinen Namen und er ist sofort da. Geboren wurde ich 1971. Ich weiß wo. Von hinten angefangen heißt Julia: Speer. Am Elften Zweiten Zweitausendzehn haben wir uns kennengelernt. Das ist jetzt ein Jahr und zwei Monate her. Ich muss an T. S. Elliot denken. Im April hat Julia gesagt: Es darf dir nie schlecht gehen – fest versprochen! Das war vor dem Alten Museum, in Berlin, Am Kupfergraben, Unter den Linden. Und ich tat es ebenso, ich habe es ihr auch versprochen. Schwörenderweise. Das ist jetzt ein Jahr her. Ich fühle dem Gedanken nach, wie wir uns kennengelernt haben. Und es kommt sofort: vor dem Bücherregal. Auf der dummen Party. Bei einem grünen Taschenbuch von Plotin. Dunkelgrün mit Schwarz.
Plo-tiehn! will meine innere Julia mir zur korrekten Aussprache verhelfen. So war das damals, genau so, und ich muss lächeln – innerlich, dort sehe ich Julias liebes Gesicht. Das allerliebste, das ich jemals schauen durfte – das war schon damals, gleich vor dem Bücherregal war das so. Und dann habe ich ihr zum Dank das Gesicht mit Zahnpasta vollgeschmiert im Badezimmer und sie hat mich aufgefordert, das zu entfernen. Küssenderweise.
Und ich denke an unser erstes Wiedersehen wenige Stunden danach in der Bar; an den Bus, mit dem sie danach wegfuhr und dem ich so lange hinterhergesehen habe, weil ich es nicht begreifen konnte, dass sie da tatsächlich drin ist; dass sie tatsächlich damit entfernt wird von mir, Julia; und an meine erste SMS an sie denke ich dann, die erste von Tausenden, in der doch bloß stand Im Zweifel für den Zweifel – und ihre Antwort weiß ich auswendig, sogar jetzt, immer noch. Ich denke an Paris, an das Springreitturnier, an die entführte Pferdeprinzessin und an JuliasGesicht auf dem Bildschirm meines Computers dort im Hotel, an ihr besorgt blickendes Nachbild, und ich denke an New York, an das Standard Hotel, einen Lieblingsplatz auf der Welt und an ihre EM ail, in der als Erwiderung auf das Mein Computer schaut mich an von mir stand: Und ich durch ihn und meinen hindurch dich an.
Ich sehe mich im Sommer darauf im Süden des Libanons sitzen, im Sommer der Krise, Sommer des Codeins: Da ist ein Tisch aufgebaut am Rande des Hafenbeckens und dort sehe ich mich, fassungslos weinend, einem Mann zusehen, der von seinem Boot aus Handgranaten in das wunderschön spiegelnde Wasser schmeißt, als seien es Bonbons, als sei das hier Karneval. Und im Anschluss das Nachtessen mit dem Drogenbaron an ein und demselben Tisch vor der Kulisse einer nun schwarz glänzenden Lagune mit dem darin umherschwappenden, vergifteten Mittelmeer.
Ich sehe mich in Mailand nach der Jil Sander-Show, vielleicht war es auch Burberry, jedenfalls im Bagutta dann auf der Suche nach der Toilette dort in einen dunklen Raum treten, in dem die Kellner um einen Tisch versammelt sitzen, um ichweißnichtwas zu verhandeln; dann: ich auf dem Flughafen von Amsterdam und dann sehe ich auch Stockholm und Den Gyldene Freden, die grau gestrichenen Wände dort, und ich sehe mich vor der alten Standuhr am Ufer des Bosporus in Istanbul, ich sehe Katja und Maxim und – ich sehe die Bilder von Julias Gesicht, alle, die ich besitze; ich kenne sie ja allesamt auswendig und auf jedem ist sie wunderschön;
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