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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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dass mein Gesicht zerbrochen sei – und sie habe sich dann vorstellen müssen, vielleicht sei die eine Hälfte gelähmt.
    Jetzt darf ich sie umarmen. Seit ich weiß nicht wie lange – na ja doch: zum ersten Mal seit fünf Monaten, drei Wochen und vier Tagen ziemlich genau schlinge ich meine Arme wieder um Julia, mein ein und alles, meineGeliebte, meinen Seelenverwandten, meinen Lebensmenschen. Und zum ersten Mal nach dieser halben Ewigkeit legt Julia behutsam ihre Wange an die meine, die gesunde, und ich spüre ihre kindliche Haut und wie sie duftet – süß, nach Mandeln und nach Untitled, unserem Parfum. Und so bleiben wir eine ganze Weile und atmen, in mir weitet sich etwas, das findet in meinem Brustkorb statt. Es fühlt sich an, als blühe dort etwas auf, etwas von der Größe eines Hortensienblütenballens in etwa und auch von dieser Form. Ich kann die Volants dieses Ballens inwendig fühlen; sie zittern im Abendlicht eines langen Sommertages.
    Leg dich neben mich, bitte ich Julia. Aber sie befürchtet, dass das nicht erlaubt sein wird.
    Doch, doch, sage ich. Das ist eine Mutter-und-Kind-Station.
    Aber ich bin doch gar keine Mutter, sagt Julia.
    Aber ich bin jetzt ein Kind, sage ich. Und sie tut es. Mir ist noch nie etwas Gravierendes zugestoßen. Ein gebrochener Fuß, ein angeknackstes Handgelenk zu Schulzeiten, gewiss – selbst meinen Blinddarm, sogar die Mandeln habe ich noch. Ich habe nie Probleme mit den sogenannten Weisheitszähnen bekommen, weil die bei mir nie erschienen sind. Der Kieferorthopäde meinte, das gibt es nun manchmal, dass die Anlagen dazu nicht mehr vorhanden sind – schließlich gibt es die Menschheit nun lange genug, dass die Rudimente allmählich verschwinden. Dass ich mich vor ein paar Jahren sterilisieren ließ, zählt ebenso wenig zu den Unfällen, wie auch Brustvergrößerungen und Nasenverkleinerungen als Schönheitsoperationen bezeichnet werden – und schon klingt alles nur noch halb so schlimm! Dabei werden dafür dieselben Eingriffe durchgeführt, als wenn, sagen wir: jemandem die Nase mit der Faust zerbröselt wurde; oder ein Tumor aus dem Ober- oder Unterleib entfernt. Wahrscheinlich wird die Unterscheidung gemacht, weil man sich aus freiem Willen für die Operation entscheidet. Die Voraussetzung für den Unfall lautet auf sogenannte höhere Gewalt. Worauf ich mich hinsichtlich meiner zahlreich erlittenen Schnittverletzungen keineswegs herausreden will – an jeder einzelnen war ich selbst Schuld, hatte ich doch jedes Mal die Klinge aus freiem Willen zur Hand genommen. Und Schnittverletzungen hatte ich ständig, weil ich schon früh ein Faible für Messer und fürs Schnitzen, später: fürs Kochen entwickelt hatte. Aber, und das wurde in meiner Familie stets lobend hervorgehoben: bei mir heilte jeder Schnitt, selbst dieser eine, beim Versuch den Kern einer Avocado zu halbieren erlittene, der am linken Zeigefinger, der genäht werden musste, umstandslos und dazu in einer Geschwindigkeit, geradezu unheimlich, wäre Heilung nicht ein derart restlos positiv besetztes Phänomen. Wenn es, wie in meinem Fall, verblüffend schnell geht mit den Heilungsprozessen, wird ja doch ganz schön viel darüber nachgedacht (so als ginge es nicht mit den sogenannten rechten Dingen zu; als verschaffe sich da einer einen Wettbewerbsvorteil, spiele sozusagen falsch). Man will auch nicht unbedingt auf seine guten Gene oder die langen Telomere reduziert werden – vor allem nicht, wenn man, wie ich, diese Vorzüge nicht mehr vererben will.
    Ich habe mich einfach davongestohlen, flüstert Julia. Sie richtet sich auf, so als hätte ich etwas erwidert, schaut mich an, schaut in das eine Auge, das mir noch geblieben ist: Es ging nicht anders – ich musste zu dir!
    Was ist das eigentlich für eine Substanz, die zwischen uns hin- und herströmt und die zugleich in jedem von uns quillt wie aus dem Breitöpfchen in diesem Märchen, dessen Name mir gerade nicht einfallen will? Welchen Teil von uns hatten wir an den jeweils anderen verliehen, sodass es uns fortan beständig zueinander hinzog, gleich wie viel an Zeit – fünf Monate, drei Wochen, vier Tage –, egal wie viel des Raumes – sechzehntausend Kilometer Luftlinie zwischen Sydney und Berlin in dem Fall – sich auch zwischen uns gedrängt haben mochte. Worin bestand diese Verbindung, die sich durch nichts, nie abreißen ließ? Ich frage sie: Was, wenn mein Gesicht so bleibt? Die Erinnerung an mein Spiegelbild ist vage, dennoch schlimm genug

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