Untitled
länger solche Sorgen um meinen Zustand machen. Gestern war Erin bei mir und sie hat mir zum Abschied eine Fünfzigerpackung mit Valium dagelassen, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es sich dabei insgesamt um die letale Dosis handelt.
Ich verbringe die Tage mit dem Studium sämtlicher Briefe und Nachrichten, die ich von Julia habe, und komme auf immer neue, interessante Ausreden, weshalb ich an diesem oder jenem Tag nicht mehr zur Arbeit erscheinen kann. Man glaubt mir schon lange nicht mehr.
Ich halte mich für einen klinischen Fall, aber meine Therapeutin meint, ich befände mich auf einem guten Weg. Kann ich ihr trauen? Soll ich überhaupt?
Als Julia mich anruft, um mir zu eröffnen, dass sie nach Australien umsiedeln wird, nehme ich das hin. Ich rufe noch einmal zurück, um ihr zu raten, das nicht zu tun. Sie sagt: Du treibst ein Tier in die Enge und dann darfst du dich nicht wundern – das beißt!
Ich mache dann einen großen Fehler, indem ich ihr rate,Frederick alleine ziehen zu lassen. Sie sagt: Ich kann nicht leben ohne ihn.
*
Ich stand am Panoramafenster der Air France-Lounge des Flughafens Tegel, zu der ich mir mit einem First-Class-Ticket nach New York, das ich Erin schenken würde, Zutritt verschafft habe. Der iPod lief auf maximaler Lautstärke, Shakespears Sister, und ich konnte Teile meines Gesichts in der dunklen Scheibe erkennen, sie leuchteten wie Scheiben eines Kürbisses, es war ja auch schon wieder Oktober geworden, die Kürbisse wurden zu Grinselaternen geschnitzt und vor den Wohnungstüren erschienen die Kinder in kleinen Gemeinden und riefen nach Trick or Treat, vermutlich ohne genau Bescheid zu wissen, warum sie das tun sollten oder was uns ihr Schlachtruf bedeute.
Ich sah auf die im Grunde zierliche Röhre mit ihren im Grunde extrem dünnen Flügeln. Die Perforation durch die vielen Kabinenfenster, daraus drang trübe das Licht. Ich sah, wie der sogenannte Finger sich zurückzog. Die Kabinentür war verschlossen. Winzige Menschen in grellgelben Westen wuselten auf dem Schwarz um die Fahrgestelle herum. Den mir zur Verfügung stehenden Informationen zufolge hatten Julia und Frederick die Nachtmaschine noch kaum bestiegen, da vibrierte das iPhone in meiner rechten Hosentasche und in der blaugläsernen Blase, die auf dem schwarzen Display erschienen war, konnte ich ihre Nummer entziffern und darunter: My Dear, ich möchte so furchtbar gern erfahren, wie es dir geht: J
Bocca, baciata non perde ventura
anzi rinnova come fa la luna
Verdi, Falstaff
Sydney
Ich liege in meinem Bett im Hotel Solidor, ich schlafe nicht mehr, aber ich bin auch noch nicht wach; durch die geschlossenen Lider spüre ich, dass es in meinem Zimmer hell geworden ist, und zwar: viel zu hell – ich bin noch sehr müde. Extrem. Dass es draußen um diese Zeit bereits hell geworden ist, wird an dieser Lampe mit eingebautem Infrarotsensor liegen. Der Sensor überwacht den Innenhof (obwohl dort nur die Mülltonnen stehen und ein paar Fahrräder – n’importe quoi), manchmal bleibt er wie es heißt stecken, er geht dann eben nicht aus wie vorgesehen, sondern lässt die von ihm betreute Lampe weiterbrennen, noch viele Minuten lang. Ich kenne das, ich wohne schon seit einer Weile hier. Eigentlich sollte ich mich daran schon gewöhnt haben – aber heute ist es nicht nur zu hell, um weiterzuschlafen, sondern zudem noch laut. Da sind Stimmen um mich herum, ich höre auch andere Geräusche, aber es sind die Stimmen der Männer, die mich am Weiterschlafen hindern, dazu das Licht – gestern Mittag sind nebenan ein paar Franzosen eingezogen. Ich habe das nicht selbst gesehen, aber man hat mir davon erzählt. Angeblich sogar mit Hund, ein Schäferhund, vermutlich sind es jetzt diese Franzosen, die eine Party geben, da kann ich kaum etwas dagegen haben wollen und trotzdem: es ist noch Nacht, tiefe Nacht, die Nacht auf Montag. Mein Kopf tut weh und – mir ist ziemlich schlecht.
Wenn ich mich aufrichte, muss ich mich übergeben, das steht mir mit einem Mal klar vor Augen. Ich halte sie noch immer geschlossen – meine Augen –, obwohl, ich bin mir nicht sicher, denn mir klopft jemand mit der Hand auf die Brust, und das kann ich seltsamerweise sehen: also diese Hand und ein blaues T-Shirt. Und dazu eine Stimme, die meinen Namen ruft, ganz unangenehm, weil ich ihr zuhören muss: Verstehen Sie mich? Hallo! Sie hatten einen Unfall. Ihr Mittelgesicht ist gebrochen. Das ist – also wenn Sie sich einen Totenschädel vorstellen,
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