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bärtigen Stellvertreters, wonach die laufende Produktion bereits zu weit fortgeschritten sei, um an einem Donnerstag noch etwas zu ändern – ansonsten nähme man die Gefährdung des ordnungsgemäßen Feierabends in Kauf –, wurden zugunsten der Möglichkeit, einen ziemlichen Kracher zünden zu können, einstimmig ignoriert), es begann also gerade erst lustig zu werden, als der brasilianische Praktikant mir einen Telefonhörer reichte. Ich hatte die Sekretärin des Chefredakteurs am Ohr: Ob ich kommen könnte? Jetzt gleich, bitte.
Na, wenn das anders nicht ging?
Seit dem letzten Wechsel in der Chefredaktion war ich dem aktuellen Inhaber des Postens nur noch selten begegnet. Mir war klar, dass es um etwas Außergewöhnliches gehen sollte, denn es befand sich noch ein anderer Mann in dem Raum. Jemand, dem ich noch nie zuvor im Verlagshaus begegnet war: eine sandfarbene Gestalt mit silberner Nickelbrille saß hinter der Mineralwasserbatterie. Der Chefredakteur nahm ebenfalls Platz und erteilte dem Wesen das Wort.
Sagt Ihnen der Name André Saraiva etwas?
Ach du Scheiße! Na klar doch, ich kann jetzt schon auflösen – und um die Quizshow-Atmosphäre noch zu verdichten, kündete mein iPhone mit glockenhellem Signal von einer Nachricht, die in meiner Hosentasche eingetroffen war.
Zu den Vorteilen der Arbeitsplätze im goldenen Hochhaus gehört die Aussicht auf Berlin. Das Verlagsgebäude wurde in einer Zeit erbaut, als Umweltprobleme und eine Verknappung fossiler Brennstoffe noch nicht im Zusammenhang mit den Fensterflächen der Häuser gesehen wurden. Der Sandfarbene saß vor dem sieben Meter breiten Panoramafenster der Chefredaktion. Ironischerweise stieg soeben hinter seiner Schulter der Fesselballon mit dem Werbeaufdruck der Tageszeitung des Verlagshauses auf. Dieser Ballon zählte zu den innovativen Werbemaßnahmen, mit denen die Öffentlichkeit auf die Tageszeitung aufmerksam gemacht werden sollte. Der Ballon war einige Querstraßen vom Verlagshaus entfernt auf einem weiteren Stück Brachland vertäut. Die Außenhaut des Ballons war mit der schematischen Darstellung der Kontinente in Blau auf Weiß zum fliegenden Globus bedruckt worden. Immer wenn eine ausreichend große Zahl von Touristen ihre Tickets für einen Trip gekauft hatten, zog der Werbeballon seine Passagiere bis auf eine Höhe empor, die ungefähr auf der Ebene der Chefredaktion lag. Die schlaue Verbindung aus werbendem Effekt plus materiellen Einnahmen aus den Ticketkäufen der Ballonfahrer war beispielhaft für die neuen Erwerbsmodelle des Verlagshauses, mit denen die rückläufigen Einnahmen aus den Zeitungsverkäufenaufgefangen werden sollten. Das war freilich nicht jedermann klar, der sich nicht intensiv mit der Geschichte des Verlagshauses auseinandergesetzt hatte. Oder abseits der Sichtweite zum Balkon lebte. Und so kam es, dass ich im Juli am Rande der Modewoche auf einem Essen im Kronengrill eben jenen André Saraiva kennengelernt hatte, der dort mit Marco Brambilla, der im New Yorker Standard Hotel den Animationsfilm für die Fahrstühle konzipiert hatte, und Olivier Zahm, dem Herausgeber des Purple Fashion Magazins, erschienen war. André Saraiva war ursprünglich Graffitikünstler, seine Figur, der sogenannte Monsieur A., war unter Sprayern wie auch in Modekreisen sehr bekannt: Ein Grinsekatzengesicht, das rechte Auge verschwörerisch zugedrückt, Strichgliedmaßen, lange Schuhe – einfach zauberhaft! Ich kann mir keinen Menschen vorstellen, dem das Monsieur-A.-Männchen nicht sogleich gute Laune macht. Ich erzählte André von meiner Leidenschaft für den Buchstaben J und zeigte ihm auf dem iPhone eine Auswahl meiner schönsten Aufnahmen. Damals waren es schon weit über tausend J in allen Farben und Schreibweisen, die ich auf meinen Geschäftsreisen zu den diversen Modewochen eingefangen hatte – gesprühte, solche aus Neon, von Ladenschildern, Band T-Shirts, aus Lebensmitteln geformt oder in der Natur vorgefunden (beispielsweise Regenschirmkrucken oder Russisch Brot). Es war das erste Mal, dass ich jemand anderem als Julia meine Sammlung zeigen wollte. Ich folgte meiner Intuition. Und André fand meine J-Fotos nicht nur sehr schön, er fragte mich, wozu ich überhaupt noch diesen anderen Beruf brauchte – für ihn, André, den Schöpfer der von mir sehr geschätzten Monsieur-A.-Figur, sei ich von Hauptberuf J-Fänger. Das genüge doch völlig! Das Fotografieren des immerselben Buchstabens auf freier Wildbahn seinichts anderes
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