Untitled
Mit jedem neuen Foto aus Julias – ja: Seele, das beim Öffnen von Instagram erschien, wurde mir das, wurde mir unsere innige Verbundenheit vor Augen geführt. Zwar hatten wir uns so ziemlich von Anfang an auch gegenseitig Fotos geschickt, unter anderem war meine Sammlung der Buchstaben J so entstanden, dochwar ein Austausch von Bilddateien über EM ails nicht dasselbe. In Emails verschickte Bilder musste man speichern, musste sich sogar einen Ordner dafür anlegen und dergleichen. Darin lagen sie dann getrennt vom ebenfalls mit der Email verschickten wörtlichen Inhalt. Dieses bürokratische Empfangen und Speichern und Ablegen wurde aber der Sache nicht gerecht, die ja Liebe, die Leidenschaft war. Instagram hingegen wurde für uns zu einem Ort. Zu einem portablen Ort. Nur für uns beide. Es wuchs dort Bild auf Bild, Zeile unter Zeile: ein neuer bewohnbarer Teil unserer Welt.
Am Morgen, nachdem mir das mit der Kündigung passiert war, zog ich das große Lexikon der Vögel aus meinem Regal und fotografierte das Bild einer Bartmeise ab.
Bei der Bartmeise, Panurus Biarmicus, mitnichten eine Meisenart, sondern einzige Vertreterin der Gattung der Timalien, finden sich die Paare bereits im Jugendkleid und bleiben ein Leben lang beisammen. Die Vögel bewohnen die Schilfgürtel der Paläarktis, wo sie sich im Sommer von Insekten, im Winter von den bevorrateten Samen des Schilfrohres ernähren. Nach der Paarbildung leben die Vögel über einen längeren Zeitraum unzertrennlich und zeigen ein nach menschlichem Ermessen umeinander besorgtes Verhalten: entfernt sich ein Exemplar außer Sichtweite, fängt das zurückgelassene sofort an, nach ihm zu rufen. Diese Rufe funktionieren als Positionsmeldungen und in dieser ersten Zeit löst ein beantworteter Suchruf stets das Hinterherfliegen des Suchenden aus. Dieser unbedingte Drang zur körperlichen Nähe wird über die Jahre durch das Rufen ersetzt. Es genügt den Partnern jetzt offenbar, die Verbindung vermittels akustischer Signale zu pflegen. Hier unterscheiden sich die Timalien von den ebenfalls monogam lebenden Agaporniden, denen eine solche Sublimation des physischen Kontaktes nicht möglichist. Stirbt bei diesen Kleinpapageien ein Partner, sucht sich das hinterbleibende Exemplar umgehend Ersatz. Die Timalien hingegen bleiben dann bis zum Lebensende allein.
Wie üblich sollte es noch einige Tage dauern, bis ich begriffen hatte, dass ich wirklich gekündigt werden sollte. Dass dieser Schauprozess im Büro des Chefredakteurs eine Auswirkung auf die Wirklichkeit, auf meine zumindest, haben sollte. Ich würde nun arbeitslos. Von außen betrachtet war ich es bereits. Ich ging ja nicht mehr ins Verlagshaus.
Was tat ich stattdessen? Zwar schlief ich weiterhin wenig (und wenn, dann wachte ich immer um dieselbe Zeit, zwölf vor fünf wieder auf) und begann dementsprechend zeitig meine Tage, aber das fand ich nicht schlimm, denn die vor mir liegenden Stunden stellten sich als angenehm strukturlos dar. Friedlich und weit. Ich verbrachte viel Zeit in meiner Wohnung. Beobachtete, wie das Tageslicht zu verschiedenen Stunden ganz unterschiedliche Räume erzeugte. Stimmungen, von denen ich mich bereitwillig leiten ließ. Ich spazierte über die schöne Muldensteinstraße, trank einen Sojacappuccino im La Strada und ich vermisste Julia. Aber auch das Gefühl des Vermissens veränderte sich, es schien milder und zugleich tiefer zu gehen. Der Prozess, der in meiner Seele begonnen hatte, war der einer Wandlung. Ich kam mir ausgeglichen vor, doch breitete sich in mir eine sanfte Schwere über alles, was Julia mir bedeutete; was mich an sie erinnerte, was ich an Nachrichten von ihr erhielt. Und diese Schwere war nicht niederdrückend, sondern sie hinderte lediglich die Erinnerungen daran, verweht zu werden. Und die Schwere spendete zudem einen Schatten, um die Erinnerungen vor dem Verbleichen zu beschützen.
Meine Therapeutin, der ich von dieser Veränderung in meinem Gefühlsleben berichtete, erklärte das durch denWegfall der routinierten Tagesabläufe. Die Arbeit hatte in meiner Ausnahmesituation des andauernd unerlösten Verliebtseins die Funktion eines Korsetts inne, das mich vor dem Zerfließen bewahrt habe. Interessant schien mir an dieser Sichtweise, dass man sich ein Zerfließen offenbar nur von innen nach außen hin und somit in die Breite vor sich gehend vorstellen konnte. Was nun aber geschah, nachdem man mir sozusagen das Korsett fortgenommen hatte: Ich blieb von außen her fest,
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