Untitled
verflüssigte mich aber zu meinem Inneren hin (wie einer jener Schokoladenkuchen, die im Kronengrill zum Dessert serviert wurden. Auf der Karte wurden sie als halbflüssig bezeichnet, waren das aber nicht in einem Sinne von halb und halb, also matschig, sondern eben so: der krustigen Hülle nach zu urteilen gewöhnliche Schokoladenkuchen, quoll einem beim Einstechen der Gabel das glänzende Innere entgegen). Da dieser Vorgang des Zerfließens nach innen gemäß physikalischem Gesetz eine Zunahme an seelischer Bewegung, an innerem Umtrieb verursachen musste, nahm meine Aufmerksamkeit für die Umwelt ab. Insofern stimmte die Theorie meiner Therapeutin: Solange ich mich noch mit etwas anderem als Julia befassen musste – mit den Fragen der Mitarbeiter, meinen Reisen, den Abläufen der Produktion –, konnte ich mich noch nicht restlos meinem Gefühl der Sehnsucht nach ihr überantworten. Nun waren mir die letzten Kapazitäten freigeräumt worden.
In jenen Wochen führte meine Therapeutin eine Neuigkeit in den gewohnten Ablauf unserer Treffen ein: die letzten zehn Minuten standen mir dann zur freien Verfügung, um ihr, wie auch immer es mir in den Sinn kam, zu erzählen – die einzige Voraussetzung: meine Erzählung handelte von Julia. Diese zehn Minuten wurden zum Höhepunkt meiner Woche. Ich freute mich vorausschauenderweise,manchmal schon auf dem Nachhauseweg von der eben verstrichenen Therapiestunde, auf das nächste Mal. Sorgfältig achtete ich bei meinen Gedankengängen zwischen diesen Erzählungen darauf, dass ich mir keine Idee, keine Erinnerung aufsparte, um sie, sozusagen beiseitegelegt, erst zum geeigneten Zeitpunkt gegenüber meiner Therapeutin aufzupolieren. Ich kannte diese Neigung aus meiner Kindheit und in gewissen Aspekten hatte sie sich bis in die Gegenwart erhalten. Damals, als Kind, betraf sie vor allem mein Verhalten beim Essen: Gab es auf einem Teller mit verschiedenen Speisen etwas, das ich gerne mochte, so aß ich zunächst alles Übrige auf, um das Beliebte abschließend und konzentriert genießen zu können.
Das hielt ich, wenn ich mich unbeobachtet fühlte, auch heute noch so. Aber mit den angenehmen Gedanken an Julia wollte ich anders haushalten. Für die jeweils im Verlauf einer Woche angestauten Gedanken waren die mir zugestandenen zehn Minuten Erzählzeit auch zu knapp bemessen. Einmal unterbrach sie mich unvermittelt: Wie ist Frau Speer eigentlich eingerichtet? Beziehungsweise: war. Wie sah es in der Berliner Wohnung aus? Wir haben noch nie darüber gesprochen – erzählen Sie doch bitte mal.
Sosehr mir die Rolle des Speerologen zusagte, diese Frage war schwer zu beantworten.
Eigentlich – gar nicht.
Das geht ja nicht, wie Sie wissen.
Ich weiß. Aber von einer Einrichtung im eigentlichen Sinne war dort tatsächlich kaum etwas da.
Und uneigentlich?
Hm –.
Gehen wir es doch Raum für Raum durch – im Geiste. Da musste ich an die Klingel denken, dort oben, ganz allein in ihrem kleinen Gehäuse. Ich sah die grau spiegelnde Fläche des Fischgrätparketts vor mir, die sich nun ungehindert über den gesamten Fußboden verströmen durfte (ich spürte Julias Stimme, die gab mir das ein, dass sie dem Parkett Freiheit geschenkt hat; dass es nun ungehindert war, sich zu ergießen. In freundliche Weiten).
Es gab dort kaum Möbel.
Kein Bett?
Doch. Eine Matratze.
Kein Gestell? Kein Nachtschränkchen, keine Lampe – bei einer lesenden Person?
Es waren zwei. Übereinandergelegt. Die Lampe stand auf dem Fußboden. Die Bücher auch. Ein Stapel, wie man das halt so hat.
Wo wurde gesessen?
Es gab Stühle. Zwei. Für jeden einen.
Kein Tisch?
Das Fensterbrett in der Küche war sehr tief. Außerordentlich tief. Und breit.
Wo hat Frau Speer gearbeitet?
Ich mutmaßte: Im Bett?
Einmal, es war schon lange her, da hatte sie eine Therapiestunde abrupt unterbrechen müssen, weil ihr die Kontaktlinse unter das Lid gerutscht war. Sie hatte eine Entschuldigung hervorgepresst und war zur Toilette geeilt. Diese Gelegenheit hatte ich genutzt, um mir Einblick in ihre Aufzeichnungen zu verschaffen. Bis zu dieser Stunde war ich davon ausgegangen, dass auf den vielen Blättern Notizpapier, die sie während unserer Gespräche beschrieben hatte, nichts Lesbares stünde außer Kreiseln und Kringeln und Zickzack. Dass sie mein Reden sozusagen gestisch begleitete, indem sie einen Stift übers Papier führte, mehr aber auch nicht. An jenem Vormittag aber musste ich meine Annahme korrigieren: Zwar machte ihre
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