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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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glänzenden Scheibe des Displays nun weiter Nachrichten von Julia eintrafen, die ich aber nicht mehr sehen konnte, war grausam. Wie Ertrinkende, die, durch das Eis in den darunterliegenden See eingebrochen, nun von unten her gegen das Eis klopften – schwach und immer schwächer. Ich ging aus, um nicht mehr neben dem aufgebahrten Gerät herumzuliegen. Ich traf mich mit ein paar Menschen im Kronengrill. Anscheinend fand man es erstaunlich, dass ich mich vor die Tür traute (meines als schmachvoll erachteten Abganges beim Verlagshaus wegen) – es war mir egal. Ich trank unmäßig, um das iPhone-Mikado durchstehen zu können. Ich konnte an nichts anderes denken. Es war fürchterlich. Hätte ich da bereits gewusst, dass Steve Jobs im nächsten Jahr um diese Zeit gestorben sein würde, es wäre mir egal gewesen. Mir ging es ja nicht um das Gerät. Ich dachte an Julia. Dem iPhone verdankten wir viel – aber wenn es das iPhone nicht gegeben hätte, wir hätten uns eines anderen Mittels bedient. Ich wollte mich darauf verlassen können, dass Julia auch ohne explizite Erklärung von mir wusste, was los war. Diese intuitive Verbindung hatten wir zum ersten Mal entdeckt, als ich in London einen Zusammenbruch erlitten und sie dies über viele Meilen hinweg durch ein beunruhigendes Gefühl mitgeteilt bekommen hatte. Vielleicht lag es am Alkohol, vielleicht wurde unsere Verbindung durch meine Abstumpfung in Mitleidenschaft gezogen. Zugleich wuchs mein Zweifel, ob es dieses Mal ebenso funktionieren würde. Ob sie trotzdem spüren konnte, dass ich mich nicht ihretwegen zurückgezogen hatte, sondern wegen des Fotos. Dass ich keine andere Frau getroffen hatte. Dass mir nichts zugestoßen war.
    Oder eben halt: doch. Aber zur Abwechslung mal seelischer Art. Jetzt hätte es gutgetan, wir könnten reden. Als ich von dem Tisch aufstand, war ich ziemlich besoffen. Das lag am routinierten Nachschenken der Kellner, in meiner Wahrnehmung hatte ich nur ein einziges Glas gehabt. Auch fiel mir auf, dass ich mittlerweile mit Fremden zusammengesessen hatte. Dass die ursprüngliche Besetzung des Tisches bereits aufgebrochen war, hatte ich nicht mitbekommen. Auf dem Nachhauseweg kehrte ich dann noch in eine Bar ein. Später fand ich mich zu Hause. Da war es schon beinahe hell geworden. Ich trug das Gerät in die Küche und machte einen Kaffee. Ich nahm ein Bad, das Gerät legte ich in Sichtweite. Ich konnte nicht schlafen, das lag am schlechten Gewissen. Was tat ich Julia bloß an? Vor meiner Therapeutin verschwieg ich den Vorfall wie auch die Maßnahme, ja: ich log sie glatt an, als sie mich fragte, ob sich etwas Neues ereignet habe zwischen Frau Speer und Ihnen . Das heißt: Ich versuchte es, sie anzulügen. Auf mein Nein hin sah sie mich bloß an und sagte nichts. Als das nicht aufhörte, sagte ich ihr, dass ich nicht darüber reden wollte . Ich brauchte sie nicht zu fragen, ich wusste, dass sie mein Lügen sofort bemerkt hatte. Ziemlich zu Anfang unserer Zeit hatte sie mich darauf hingewiesen, dass man mir alles ansehen könne, was mich seelisch beschäftigte. Trotzdem log ich, denn ich wusste, dass sie mir die zehn Minuten erzählen von Julia streichen würde, wenn sie erführe, was Julia gemacht hatte. Und das wollte ich auf gar keinen Fall, denn diese zehn Minuten am Ende der wöchentlichen Therapiestunde waren doch das Einzige, was mir von den Möglichkeiten der Beschäftigung mit ihr geblieben war. Es stimmt ja nicht, jedenfalls für mich traf das nicht zu, dass die gedankliche Beschäftigung mit dem anderen reine Ersatzhandlung bedeutete. Für mich wurde es körperlich spürbar, so als berührte sie mich, mit ihren Händen und Lippen, mein Inneres, wenn ich von ihr erzählte. Wenn ich mich gedanklich mit ihr beschäftigte, dann war das Zeit, die wir gemeinsam verbrachten. Zehn Minuten die Woche – zuvor war es viel mehr gewesen, denn das Schreiben und Aufnahmen machen und das Kommentieren der Aufnahmen und das Beantworten der Nachrichten zählte alles zur gemeinsamen Zeit dazu. Aber wie Julia es mir ein paar Monate später nur an meinem Krankenbett in Sydney erklären würde: Seit der Stunde, da ich sie vor dem Bücherregal getroffen hatte, war ich keinen Moment lang aus ihrem Bewusstsein verschwunden. Und bei mir war es auch so: Sie war immer in mir. So betrachtet hatten wir die ganze Zeit – dann würde es bereits weit über ein Jahr sein, gemeinsam erlebt. Jeder im Bewusstsein des anderen. Als Fixpunkt der Gedanken, als heimlich

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