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Untitled

Untitled

Titel: Untitled Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Bessing
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empfundener Gefährte, als Teil des persönlichen Grundgefühls. Das war eine schöne Vorstellung. Eine tröstliche auch. Und dennoch: etwas begann zu fehlen. Sehr. Ich fragte meine Therapeutin: Wann ist es noch Lieben, wann wird es Wahn?
    Sie gab mir eine sehr nüchterne Antwort, nichtssagend, für mein Bedürfnis, denn ich wollte eigentlich nur hören: Sie? Lieben. Das, was Sie empfinden und produzieren, zählt eindeutig zur Liebe, machen Sie sich keine Sorgen.
    Auf dem Nachhauseweg konnte ich die bedrohlichenGedanken auch nicht weiter eindämmen: Als ich Julia kennenlernte und es so schwierig wurde, hatte ich den Job. Als ich den Job verlor, hatte ich Julia. Jetzt, im Moment sah es so aus, als hätte ich sämtlichen Halt verloren – außer Katja und Maxim, aber die waren außer Reichweite. Ich fühlte mich so bitterlich verlassen. Ich fürchtete, dass mich nun keiner mehr beschützen könnte, wenn das Verrücktwerden kam.
    Es gab nur noch eine Nachricht, die ich noch nicht gekannt hatte: Bitte gib mir nur ein Zeichen: Deine J, und die war schon vier Tage alt. Ich tippte eine knappe Antwort, sie sollte sich keine Sorgen machen. Dass es mir gut ginge, Julia anzulügen, das brachte ich nicht über mich. Ihre Antwort kam innerhalb weniger Augenblicke um den Planeten gemeldet:
    Bitte mach das nie wieder, ich habe Todesängste ausgestanden!
    Ich schrieb: Verzeih mir bitte, bitte: verzeih!
    Ich verzeih dir! Natürlich! Wie könnte ich dir je böse sein? Aber die Verbindung darf nie abreißen – verstehst du das bitte?
    Ich verstand. Natürlich verstand ich. Ich verstand doch alles, was mit ihr und mit ihr, mit uns zu tun hatte. Und es war ganz egal, dass es niemand außer mir, niemand außer uns beiden verstand.
    In der Nacht nach der Versöhnung lag ich wach bis zum Morgen. Als es hell wurde, stand es mir so klar vor Augen, dass ich es mitsprechen konnte. Ich schaute an die Decke und las ab, was mir vor Augen stand, ich sagte: Ich will mit Julia zusammen sein.
    Die angenehmen Gefühle vom Abend zuvor waren aufgebraucht oder umgewandelt worden, auf jeden Fall war nun der Kummer zurück, das Schwindelgefühl ebenfalls,ich beobachtete mich beim Denken und sprach einfach mal halblaut mit, um mich meiner selbstzerstörerischen Pläne zu überführen. An diesem Morgen wurde in meiner Anwesenheit die Böse Kirche begründet. Deren Priester und einziges Gemeindemitglied ich war. Die rituellen Handlungen beschworen die Rückkehr Julias. Also hörte ich mich sagen: Nichts mehr essen. Nicht mehr schlafen. Nichts Schönes mehr machen.
    Wenn all dies streng eingehalten würde, kehrte Julia zu mir zurück. An Silvester sagte Katja zu mir: Wir müssen dich endlich aus diesem Dauerliebeskummer rauskriegen, du gehst sonst kaputt.
    Und ich fragte: Wieso?
    Und sagte ihr, dass ich mein Leben eigentlich ganz schön fände. Bis auf das Alleineschlafen, das Alleinezubettgehen und das Alleineessen. Und darauf schaute sie mich an und sagte: Das ist doch ganz schrecklich, was du da sagst! Und dann weinten wir beide und kurz darauf begann das neue Jahr.
    Ich glaube, Katja hatte damals Angst, ich würde bald sterben, wie Frank Giering, der ihr sozusagen vor laufender Kamera unter den Händen weggestorben war. Am Liebeskummer – und am Wodka natürlich. Ich trank ja auch viel zu viel in der Zeit. Anders hielt ich dieses Eingesperrtsein nicht aus. Die Traurigkeit war an mir emporgerankt wie Efeu. Eines Abends, nach einem Spaziergang durch den Park, war mir plötzlich so, als stieße der Wind mir das Turmfenster auf: Ich war zu Julias Witwer geworden. Mein Leben war nun ihrem Andenken und den gemeinsamen Erinnerungen gewidmet. Dem Schreiben der Nachrichten, dem Austausch der Fotos, ab und an ein Videotelefonat – das war doch auch nichts anderes als das Blättern in Fotoalben, das Hervorholen der Briefbündel, das Einlegen alter Videobänder von Familienfesten oder den Ferien auf Lanzarote.
    Julia und ich, wir waren nun wirklich die Pioniere und die Verfechter der Liebe in Gedanken gewesen. Wir hatten die zeitgenössische Technologie zur Gedankenverbindung bis zum Anschlag ausgereizt – dabei fiel mir ein: lebte Freeman Dyson eigentlich noch? –, aber jetzt, nach einem halben Jahr ohne eine Berührung, ohne Streicheln, ohne Kuss oder einen Blick, der nicht durch einen Bildschirm gefiltert wurde, war meine Seele kurz vor dem Hungertod, so fühlte sich das für mich an. Als ich eines Morgens an der Fußgängerampel nach dem kleinen Knopf in der

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