Untitled
Unterseite des Grün-Bestellkästchens tastete und dabei irritierenderweise an Julia denken musste, beschloss ich: Jetzt reichts!
Und ich kaufte den Flug nach Australien.
Kernschmelze
Es war ein Donnerstagabend, zehnter März 2011, der Planet hatte sich eben erst aus dem Strahlungskegel der Sonne gedreht, als ich es mir in meinem Flugzeugsitz bequem zu machen versuchte. Diese Flugreise war tatsächlich die erste seit vielen Jahren, die ich in der Economy Class verbringen würde; all die Flüge in den Jahren, da ich noch über Mode schrieb – es war noch nicht lange her –, reiste ich sitzenderweise im vorderen Teil der Maschinen. Aber nun, mit zwei anderen Passagieren in einer Dreierreihe ans kalte Plastikfenster gerückt, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich unter solchen Bedingungen einen Flug nach beispielsweise New York von neun Stunden plus Retour auf mich genommen hätte, um dort drei Modenschauen à zehn Minuten zu besuchen. Keiner meiner Kollegen von damals – es erschien mir ja tatsächlich bereits unfassbar lang her – hätte das unter solchen Bedingungen auf sich genommen. Nicht einmal die Blogger; eventuell angehende Blogger, oder der Praktikant eines Bloggers. Was aber nicht an den neun Stunden Flugzeit, sondern an den zehn Minuten Modenschau lag.
Wäre das Ziel meiner Reise also die Modewoche in Sydney gewesen, hätte ich einem Achtunddreißig-Stunden-Flug (brutto) in einem bedrängten Sitzplatz mit Grauen entgegengesehen. Und nicht nur gesehen. So aber – wie nannte sich eigentlich das Gegenteil des Grauens? Wohlbefinden war es jedenfalls nicht. Da war eine gelbstichige Unruhe in mir, ein Gefühl, dass ich von ganz Früher, aus der Kinderzeit kannte: wenn ich auf einer Schaukel saß und mich dem Gefühl des nach vorne weggeschwungen Werdens ausgeliefert sah – diese Angst, den Halt zu verlieren und auf die stürzende Welt gekippt zu werden, gemischt mit etwas, das ich viel später erst als Lustempfindung benennen konnte. Zwar kam mir das Gefühl zu Kinderzeiten schärfer vor – aber das konnte auch ein Trugschluss sein, der in meinem Gedächtnis beim Blick in den Rückspiegel erzeugt wurde, wo bei den New Yorker Taxis zu lesen stand: objects are closer than they may appear. Beim Gedächtnis verhält es sich ebenso: Das Erinnerte (im Rückspiegel des Gedächtnisses Auftauchende) erscheint schöner, wärmer, größer, weicher – vor allem sinnvoller, als es das zum Zeitpunkt der Entstehung tatsächlich gewesen war. Mit dem Effekt, dass einem das eigene Leben als eine sinnvolle Verkettung von Wegmarken erscheint. Julia hielt die fatalistische Sichtweise für Unsinn. Ihr Argument, das Bild von dem Taxirückspiegel, fand ich überzeugend. Konnte es mir allerdings nicht vorstellen, dass es in zumindest einem konkreten Fall, dem unseres Kennenlernens vor dem Bücherregal, ebenfalls Zufall gewesen sein sollte, dass. Und in Folge lediglich eine Kette von Entscheidungen aus freiem Willen heraus, die. Ich konnte da nur von mir sprechen, aber ich hatte in dem Augenblick, da Julia mich vor dem Bücherregal angesprochen hatte, und ich in der Folge ihr unvorsichtigerweise in die schönen Augen geschaut, meine Willensfreiheit eingetauscht gegen ein unbedingtes Gefühl ihr angehören zu wollen – um jeden Preis. Selbst um den Preis – so hatte sie mich das während einer schrecklichen Auseinandersetzung einmal gefragt: dass wir uns nie wiedersehen könnten. Das war zu einem Zeitpunkt gewesen,der viele Monate nach der Begegnung vor dem Bücherregal lag; schmerzvolle Erlebnisse diverser Natur hatten wir da bereits überstanden, und trotzdem: Das Bücherregal, wir beide davor, was sie zu mir gesagt hatte, und ich zu ihr – in unserer beider Erinnerung blieb diese erste Begegnung von all dem, was danach mit uns geschehen war, nicht nur unangetastet, sondern wurde, da dies Ereignis am Anfang unserer gemeinsamen Erinnerung stand, von den nachfolgenden in ein goldenes, ein Licht von unantastbarer Reinheit gerückt.
Ich konnte ja so einiges, im Grunde besaß ich zu viele Fähigkeiten, um mich auf irgendetwas konzentrieren zu können, um in wenigstens einer Disziplin so etwas wie Meisterschaft zu erringen. Aber ausgerechnet die Ölmalerei beherrschte ich nicht. Denn ich wünschte mir so sehr ein kleinformatiges Bild von dieser Szene, gemalt im Stile Jan Vermeers: Mädchen trifft Jungen vor fremdem Bücherregal. Vielleicht könnte dies meine erste Entscheidung aus freiem Willen sein: Ich würde es wie Martin
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