Untitled
vernichtet worden war. Aber das interessiert dich jetzt wohl nicht wirklich, schloss Maxim seine Ausführungen. Was ist denn los?
Nachdem ich geendet hatte, konnte ich hören, wie er mit gedämpfter Stimme eine Zusammenfassung meines Berichts an Katja übermittelte, und das gab mir ein beruhigendes, ein familiäres Gefühl. Sogar, als ich sie mit ihrer tiefen Stimme sagen hörte: Oje.
Das ist schon stark, sagte Maxim. Und er riet, darin schien die Meinung Katjas mitbeschlossen, wie schon Betony: zu einem Rückzug auf Zeit. Anders als Betony beurteilte er Julias Verhalten nicht als krank, sondern entdeckte darin Verzweiflung. Katja nahm das Telefon an sich (wer steuerte eigentlich dieses Fahrzeug durch Chile?) und präzisierte: Sie offenbart ihren Konflikt. Dennoch: In dieser heiklen Situation mit ihrer fehlenden Möglichkeit zur persönlichen Aussprache hatte Julia die Mittel des Hilferufens falsch gewählt. Das müsste ich ihr nun zu verstehen geben. Aber unausgesprochen. Sonst entstünden unweigerlich Missverständnisse, die eventuell nicht mehr aufzuklären sind.
Ich fragte, ob wir uns bald wiedersähen, wann? Maxim war zu hören, dem es so irrsinnig gut gefiel, hier in Chile – er wisse gar nicht, ob sie jemals wieder zurückkämen!
Geliebtwerden macht frei. Dann fährt man mit seinem liebsten Menschen durch Südamerika und muss nichts von all dem vermissen, was man zurückgelassen hatte. Das ging mir ähnlich, nur andersherum und das überall – überall, wo ich nicht war, wollte ich sein – und überall vermisste ich Julia. Und zwar jetzt schon. Seit Langem bereits. Wie würde das erst werden, wenn ich – und eine weitere Meinung einzuholen konnte ich mir sparen – mich vor ihr verschließen würde?
Für die Benutzer von Instagram war es nicht vorgesehen, einmal hochgeladene Bilder wieder zu entfernen. Ähnlich wie Facebook es seinen Mitgliedern schwer machte, die Mitgliedschaft zu beenden. Ich hätte Julias Foto als anstößig melden müssen – was aus meiner Sicht, aus Betonys, Maxims und Katjas Sicht auch den Tatsachen entsprach. Aber ich fürchtete, dass Julia dann von Instagram vertrieben würde, und ließ es sein. Unseren Stream konnte ichdeswegen leider auch nicht mehr öffnen, denn die abgründige Aufnahme saß obenauf.
Es dauerte richtig lange, noch sieben Stunden, bis nach dem Gespräch mit Katja und Maxim, da traf eine Nachricht von Julia ein: Dear, was ist mit dir? Ich mache mir Sorgen! Deine J
In meinem Bekanntenkreis gab es außer Katja und Maxim noch weitere Paare mit Kindern und manchmal, gern um die Weihnachtszeit, kam bei denen das Erzählen aus der Phase der sogenannten Schlafschule auf. Anscheinend muss man das machen, die Schlafschule gehört zum Passionsweg junger Eltern, der ja, wenn man nur ihren Erzählungen lauscht, die fehlende Kriegserfahrung meiner Generation (und der unserer Eltern) vollkommen wettgemacht zu haben scheint. Das Treiben auf der Muldensteinstraße, das sportlich-beiläufige Talwärtsschieben der Kinderwagen joggenderweise, das Stillen der Säuglinge während andererseits das iPhone bedient wurde, kann, so gesehen, sogar in heroischem Licht erscheinen. Analog dazu die Einträge moderner Kriegstagebücher, deren Brennpunkte stets auf dem Zähnekriegen, der Magendarmgrippe und eben der Schlafschule liegen. Dabei werden die Säuglinge ihres angeborenen Rhythmus entwöhnt. Anstatt alle neunzig Minuten nach Brust oder Flasche zu schreien, soll das ahnungslose Menschenkind plötzlich auf das von seinen Eltern für gut befundene Durchschlafen konditioniert werden. Das macht man wohl so, indem man den Säugling so lange brüllen lässt, bis er entmutigt aufgibt – und entkräftet weiterschläft. Bis eben die nächsten eineinhalb Stunden um sind. Addiert man die Brüllzeit hinzu, kommt man auf eine ziemlich Furcht einflößende Wachzeit. Die Fachliteratur grenzt den Besuch der Schlafschule auf etwa zwei Wochen ein.
Für Kinderlose hört sich das überschaubar, auf jeden Fall machbar an. Wer Kinder hat, den schüttelt es allein beim Gedanken, er müsste es nun mindestens vierzehn Nächte neben seinem verzweifelt brüllenden Kind aushalten. Gleichwie dann der Lohn aussehen mochte, der dem Helden dieser Tortur überreicht würde.
Das iPhone mit Julias lieb gemeinter Frage in Händen, lag ich tatenlos da und versuchte alles, dies auch weiterhin bleiben zu können (tatenlos). Irgendwann knipste ich das Gerät einfach aus. Die Vorstellung, dass unter der schwarz
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