Untitled
war nicht mehr voll da, angeblich. Sie konnte es nicht ertragen, wenn er so beinahe sprachlos geworden an ihr litt. Dabei war es nicht zu viel verlangt, was er vorbrachte. Und – da brauchte sie ihm ja bloß in die Augen zu sehen, um festzustellen: ohne den beständigen Austausch ginge er ihr ein. Aber der andere ließ nicht locker. Dabei hatte sie ihm dochihren Willen glasklar gemacht. Trotzdem trug der ihr beständig seine Liebe an. Das rührte sie dann irgendwann wieder so sehr, dass sie ihren Gefühlen nachgeben musste. Und auch wollte, in dem Moment. Was dann aber neue Probleme hervorrief. Woraufhin sie sich nicht anders zu helfen wusste, als ihn wegzustoßen, um sich ihrer Unabhängigkeit zu versichern. Das bedeutete keinesfalls, dass es ihr in einer solchen Phase der Trennung, ihres Versuches also, von ihm loszukommen, gut ging. Sie litt enorm. Und das nahm auch noch zu. Nach Kant schlug sie Zeit mit leeren Wünschen tot. Gut zu wissen, half leider gar nichts. Kant war nicht überschätzt, aber unbrauchbar. Die Sehnsucht war schön und sie war fürchterlich. Von der Ambivalenz fühlte Julia sich angezogen. Aber die Annäherung machte neue Trennungsversuche notwendig. Auf Dauer bestand die Bedrohung darin, dass der Schmerz zum Normalzustand würde. Und dagegen half nur eins: ihn wiederzusehen. Daraus entstanden die Ansprüche.
Julia fragte, was ihn störte.
Dass du dich nicht zu mir bekennst.
Tue ich doch: als Freund.
Und er sagte, dass sie beide wüssten, dass er für sie mehr sei als das. Und Julia weinte mit aufgerissenen Augen. Er hatte sie doch längst. Mehr war von ihr nicht zu bekommen.
Dann, auf einer Heimfahrt von einer Feier: Frederick hatte sie abgeholt mit dem Bus. Sie hatte angesichts der nahenden Ankunft in der Muldensteinstraße die Rede darauf geführt. Da lag das Angebot für Australien schon auf dem Tisch. Er hatte ironische Bemerkungen gemacht, um von der faktischen Ernsthaftigkeit abzulenken (ihrer Meinung nach). Sie hatte insistiert. Er tat es ab. Da konnte sie nicht anders, als ihn auf seine eigene Prämisse zu weisen: Duhast mir damals gesagt, du wolltest erst dann davon hören, wenn es etwas Ernstes ist. Darauf er: Ich will es nicht hören. Das Ich war ihm herausgeplatzt. Sie wischte ihm die Tränen weg und bettete seinen Kopf an ihre Schulter, sein Kopf, der ihr so schwer erschien, war doch so federleicht. Sie streichelte ihm über den Nacken. Das war Liebe.
Und am nächsten Tag, sie kam vom Einkaufen, da machte sie die Tür auf und er stand dort im Flur: Frederick. Das war er – aber von oben bis unten in Sachen gekleidet, die sie nicht an ihm kannte. Das waren alles Kleidungsstücke, die sie gemeinsam mit mir besaß. Frederick hatte die sich beschafft. Und sah damit aus wie sie – oder wie ich? So genau wusste das Julia selbst nicht in diesem Moment.
So weit durfte es nie wieder kommen. Sie würde es ihm heute sagen. Müssen. Sie fürchtete sich davor. Sie war sich nicht sicher, ob sie es übers Herz bringen würde. Julia presste das iPad gegen ihren Bauch. Sie war schwanger mit Fredericks Kind. Das Verbindende, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte, dem sie entflohen war, jahrelang, es würde trennend wirken. Aber wie das begreiflich machen?
Später, auf dem Weg zum Treffpunkt, hatte Julia das iPhone zur Hand genommen, das Display beleuchtete ihr Gesicht, ihre Augen, sie verwarf den Gedanken, spontan abzusagen, stellte die Beleuchtung des Gerätes ab, steckte es ein.
Und selbst wenn – da saß ich längst auf dem Rad. Auf dem Weg zu unserem Treffpunkt am Ende der Darling Street.
Cagnes-sur-Mer
Alles aber, mein Teuerster, ist jetzt ultra,
alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun.
J. W. von Goethe an C. F. Zelter
Cornflakes und Mandelmilch. Une petite tisane, manchmal Haschisch, Nudeln, Tomaten, Rotwein: daraus bestand im Wesentlichen meine mediterrane Diät, an deren zu patentierender Mixtur ich in den folgenden Wochen unterhalb der Grimaldi-Festung zu feilen begann. Ich bewohnte dort einen mittelalterlichen Wohnturm aus vier übereinandergeschichteten Räumen, die durch eine Wendeltreppe verbunden waren. Das oberste Stockwerk diente als Küche und hatte einen Ausblick auf die Bucht der Engel zwischen Nizza und Antibes. Dort war auch das gusseiserne Tischgestell aufgestellt mit der Marmorplatte, an der ich saß. Mit Tee oder mit Wein. Und natürlich mit Camembert. Als ich im Supermarkt nach veganen Alternativen fragte, erkundigte man sich
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