Untitled
ungern. Dann, nachdem er seiner Pflicht nachgekommen ist, flüchtet er wieder nach Rom. An die Schwester schreibt er:
Die letzte Illusion, die mir verblieben war, ist dahin: die
Liebe. Nein, nein… ich liebe nicht mehr, ich kann es nicht, es gelingt mir nicht, so sehr ich mich auch dazu verstehen möchte, es gelingt mir nicht mehr, diese bedauernswerte kranke Lina zu lieben. Als Schwester, als meinen Nächsten, das schon - als Verlobte nein, nein, niemals mehr… Ach, was für Szenen mußte ich mir ansehen, ach, was für schreckliche Worte mußte ich mir von ihr anhören (ich vergehe vor Scham und Kummer allein beim Gedanken an sie), ach, was für Handlungen, was für Fertigkeiten habe ich gesehen… Zerrissenes Herze mein… Das dicht geknüpfte Netz der Illusionen, die die Liebe bilden, und die nur ein kräftigerer Hauch als der sonst gewohnte in der Lage ist aufzulösen, das schöne, überaus zarte Netz ist völlig zerrissen… Was bleibt mir? Oh, wieviel besser wäre es gewesen, würde sie mir gestorben sein!
Dieser Brief strotzt nur so von Heuchelei. Was wird die bedauernswerte kranke Lina ihm schon so Entsetzliches gesagt haben, daß der schamvolle Luigi vor Scham vergeht? Sie wird ihm mit Sicherheit die Entfernung vorgehalten haben, die Gleichgültigkeit, die Nichteinhaltung des gegebenen Wortes, die Schwindelei, vor allem diese, zu der Luigi gegriffen hat, um nach Rom zu gehen, unter dem Vorwand, schnell sein Studium abzuschließen, um sie dann gleich heiraten zu können. Doch mit jesuitischer Fertigkeit werden Linas Gründe in diesem Brief zu Linas Sünden.
Himmel nochmal, ein bißchen Anstand! scheint Luigi aus der Tiefe des zerrissenen Herzens sein zu schreien.
Als er im Sommer desselben Jahres nach Porto Empedocle zurückkehrt, hat Luigi bereits beschlossen, zwischen sich und Lina noch wesentlich mehr Kilometer zu legen als zwischen Palermo und Rom. Kaum ist er genesen, macht er sich nach Bonn auf.
Und die Krankheit wird ihm während des Aufenthalts in Porto Empedocle als Alibi gedient haben, um sich gegenüber seinen Verwandten nicht zu der Verlobung mit Lina äußern zu müssen. Die Cousine ist in den Augen aller Luigi inzwischen ›versprochen‹, auch wenn er sie nicht mehr liebt, und der Tradition entsprechend hätte er sich in die Ehe flüchten müssen. Doch Luigis Taktik, die sich letzten Endes als erfolgreich erweist, ist die, die Lage dermaßen brandig werden zu lassen, daß am Ende nur noch eine Amputation hilft.
Die Krankheit enthebt Luigi auf freundliche Weise noch einer anderen Pflicht: nämlich der, Don Stefano ins Schwefellager im Hafen begleiten zu müssen. Der Anblick dieser infernalischen Tätigkeit würde ihn peinigend daran erinnern, daß er sich, eben wegen seiner Liebe zu Lina, die er jetzt von sich stößt, in diese Hölle hinabgelassen und damit seine so hart erkämpfte Wesenseigentümlichkeit als vertauschter Sohn verraten hat.
COMO
Wenige Tage vor seiner Abreise von Porto Empedocle schreibt Luigi an Professor Monaci, daß sein römischer Zwischenaufenthalt höchstens drei Tage dauern werde, weil ich mich selber unter Druck setze, in angemessener Zeit in Bonn zu sein. Doch er hat einen Krankheitsrückfall und ist gezwungen, zwei weitere Wochen in Rom zu bleiben. Als er wiederhergestellt ist, entscheidet er sich, nicht gleich nach Bonn weiterzureisen, sondern in Como Halt zu machen, wo ein Schwager von ihm wohnt. Die Absicht dieses Aufenthalts war, sein Deutsch zu verbessern und die gute Jahreszeit abzuwarten, weil seine Gesundheit ziemlich angegriffen war.
In Como - wie wir gesehen haben - war Luigi ja schon in seiner Phantasie, um dort das Gymnasium zu besuchen. Aber nun ist er wirklich da, und auch diesmal, um zu lernen. Doch Como scheint dafür gemacht, seine Vorstellungskraft zu entfachen. Denn uns kommt es vor, daß die Figur eines braunhaarigen Mädchens in einem Gedicht aus dem Jahr 1901, das er während dieses Aufenthalts liebte, doch zu starke literarische Züge hat, um wahr, um echt zu sein. Aber ob sie nun wirklich existiert hat oder nur in Luigis Phantasie, diese braune Locandiera erfüllt eine ganz bestimmte Funktion, nämlich die der Markierung einer Grenzüberschreitung. Indem er Lina, die ja immer noch seine Verlobte ist, ›betrügt‹, vollführt Luigi symbolisch eine Geste, die den Bruch mit seinen eigenen Überzeugungen und mit seiner Erziehung darstellt. Doch der notwendige Mut für diese Geste reicht gerade nur soweit, daß er sie
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