Untitled
konnte), wandte Miß Desjardin ihre bewährte Methode bei hysterischen Anfällen an: Sie gab Carrie ein paar Ohrfeigen. Sie hätte kaum zugegeben, daß ihr das Vergnügen bereitete, und ganz gewiß hätte sie abgestritten, daß sie Carrie als ekelhaftes, wimmerndes Gör betrachtete. Als Lehrerin im ersten Jahr glaubte sie noch immer von sich selbst, daß sie alle Kinder mochte.
Carrie sah benommen zu ihr auf. »M-M-Miß D-D-Des «
»Steh auf«, sagte Miß Desjardin ungeduldig. »Steh auf und nimm dich zusammen.«
»Ich verblute!« schrie Carrie und tastete mit einer Hand suchend nach Miß Desjardins weißen Shorts. Sie hinterließ einen blutigen Abdruck.
»Ich... du...« Das Gesicht der Gymnastiklehrerin verzog sich vor Ekel, und plötzlich zerrte sie Carrie hoch und schubste sie. »Geh dort hinüber!«
Carrie stand schwankend zwischen den Duschen und der Wand mit dem Behälter für die Monatsbinden, vornüber gebeugt, mit baumelnden Armen. Sie wirkte wie ein Affe. Ihre Augen glänzten.
»Jetzt«, sagte Miß Desjardin eisig, »nimmst du eine von diesen Binden heraus... nein, kümmere dich nicht um den Münz schlitz, der Apparat ist sowieso kaputt... Nimm eine heraus... verdammt, wirds endlich! Du tust ja so, als hättest du noch nie eine Periode gehabt.«
»Periode?« sagte Carrie.
Ihr Ausdruck völligen Unglaubens war zu echt, zu sehr voller Hoffnungslosigkeit und Entsetzen, als daß man das hätte übersehen oder abstreiten könne. Eine schreckliche Ahnung stieg in Rita Desjardin hoch. Es konnte einfach nicht sein, es war unglaublich. Sie selbst hatte kurz nach ihrem elften Geburtstag ihre erste Periode bekommen und war aufgeregt zur Treppe gelaufen und hatte gerufen: »He, Mom, mich hats erwischt!«
»Carrie?« sagte sie jetzt. Sie trat auf das Mädchen zu. Carrie floh. In dem Augenblick fiel in der Ecke ein Regal mit Bällen um, und die Bälle rollten in alle Richtungen. Miß Desjardin mußte springen.
»Carrie, ist das deine erste Periode?«
Aber jetzt, nachdem ihr dieser Gedanke gekommen war, brauchte sie kaum mehr zu fragen. Das Blut war dunkel und floß mit schrecklicher Heftigkeit. Carries Beine waren verschmiert und bespritzt, als sei sie durch einen Fluß von Blut gewatet.
»Es tut weh«, wimmerte Carrie. »Mein Bauch...«
»Das geht vorüber«, sagte Miß Desjardin. Mitleid und Scham überkamen sie. »Du mußt... oh, den Blutfluß stoppen. Du «
Da blitzte es über ihnen auf, und mit einem Zischen und einem Knall zersplitterte eine Lampe. Miß Desjardin schrie auf, und ihr war, als geschähen immer derartige Dinge in Carries Nähe, wenn sie aufgeregt war, als verfolge sie das Unglück auf Schritt und Tritt. Sie nahm eine Binde aus dem Behälter und packte sie aus.
»Schau«, sagte sie. »So...«
Aus: Als der Schatten explodierte (S. 54):
»Carrie Whites Mutter, Margaret White, brachte ihre Tochter am 21. September 1963 unter Umständen zur Welt, die man nur bizarr nennen kann. In der Tat, dem aufmerksamen Betrachter des Falles Carrie White drängt sich eine Erkenntnis vor allen anderen auf: daß Carrie der einzige Nachkomme einer der verrücktesten Familien war, die es je zu allgemeiner Aufmerksamkeit gebracht hatten.
Wie schon früher dargelegt, starb Ralph White im Februar 1963, als ein Stahlträger von einem Baugerüst in Portland fiel. Mrs. White lebte weiterhin allein in ihrem Vorstadt-Bungalow in Chamberlain.
Infolge der fanatischen religiösen Einstellung der Whites kümmerte sich während der Trauerzeit niemand um Mrs. White. Und als sieben Monate später ihre schwere Stunde kam, war sie allein.
Ungefähr um 13.30 Uhr am 21. September hörten die Nachbarn in der Carlin Street Schreie aus dem Bungalow der White. Die Polizei wurde jedoch nicht vor 18.00 Uhr gerufen. Es gibt zwei unschöne Möglichkeiten, diese Zeitspanne zu erklären. Entweder wollten die Nachbarn von Mrs. White nicht in eine Polizeiaktion verwickelt werden, oder die Abneigung gegen sie war so stark, daß man bewußt wartete. Mrs. Georgia McLaughlin, die einzige von drei noch dort wohnenden Nachbarn, die mit mir reden wollte und die zu der fraglichen Zeit auf der Straße war, sagte, sie hätte die Polizei nicht gerufen, weil sie dachte, die Schreie hätten etwas mit heiliger Verzückung zu tun.
Als die Polizei um 18.22 Uhr eintraf, waren die Schreie unregelmäßig geworden. Mrs. White wurde in ihrem Bett im oberen
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