Untitled
bewahre uns vor ihm mit dem gespaltenem Fuß, der wartet in Alleen und auf Parkplätzen, o Retter...«
Sieben Uhr fünfundzwanzig.
Ruhelos und ohne nachzudenken, begann sie, Dinge durch die Luft schweben zu lassen, senkte sie wieder, ließ sie wieder schweben, wie eine nervöse Frau, die in einem Restaurant auf jemanden wartet und mit der Serviette spielt. Sie konnte ein halbes Dutzend Dinge zu gleicher Zeit in der Luft baumeln lassen, ohne das geringste Anzeichen von Müdigkeit oder Kopfschmerzen. Sie wartete immer darauf, daß die Kraft nachlassen würde, aber sie blieb gleich stark, ohne Anzeichen von Schwäche. Neulich abends auf dem Heimweg von der Schule
(o bitte laß es kein Scherz sein)
hatte sie ein geparktes Auto ohne die geringste Anstrengung mehrere Meter die Hauptstraße hinabrollen lassen. Die Spaziergänger hatten das Auto angestarrt, als würden ihnen die Augen herausfallen. Natürlich hatte sie selbst auch gestarrt, aber innerlich hatte sie gelächelt. Der Kuckuck schoß aus der Uhr heraus und schrie einmal. Halb acht.
Sie war ein bißchen vorsichtig geworden, denn die ungeheure Anstrengung, welche die Ausübung der Kraft erforderte, wirkte sich ungünstig auf Herz, Lungen und Körpertemperatur aus. Sie dachte, ihr Herz könnte eines Tages unvermutet aussetzen. Es war, als sei sie in dem Körper eines anderen Menschen und zwinge diesen, zu rennen, rennen, rennen. Nicht sie würde die Rechnung bezahlen, sondern der andere Körper. Sie begann zu begreifen, daß ihre Kraft nicht so weit entfernt war von der Kraft indischer Fakire, die über heiße Kohlen gehen, sich Nadeln in die Augen stechen, oder sich einmauern lassen.
Sieben Uhr zweiunddreißig.
(er kommt nicht)
(denk gar nicht daran Wasser kocht auch nicht wenn man es beobachtet er kommt)
(nein er kommt nicht er sitzt irgendwo mit seinen Freunden und lacht über dich und nach einer Weile werden sie in ihren lauten stinkenden Autos hier vorbeifahren und lachen und hupen und schreien)
Ihr war elend zumute, und sie begann die Nähmaschine auf und ab schweben zu lassen, ließ sie immer weitere Kurven ziehen.
»... und bewahre uns auch vor aufsässigen Töchtern, die besessen sind von dem Bösen...«
»Halt den Mund!« schrie Carrie plötzlich.
Kurze Stille, dann begann der leiernde Gesang wieder.
Sieben Uhr dreiunddreißig.
Er kommt nicht.
(dann mache ich das Haus kaputt)
Der Gedanke kam ihr ganz natürlich und selbstverständlich vor. Erst die Nähmaschine durch die Wohnzimmerwand. Dann die Couch durchs Fenster. Tische, Stühle, Bücher und Traktätchen alles würde herumfliegen. Das Dach selbst, wenn das in ihrer Macht stand, würde aufbrechen, die Schindeln explodieren und in die Nacht hinausfliegen wie erschrockene Tauben
Lichter wischten am Fenster vorüber.
Viele Autos waren vorbeigefahren und hatten ihr Herz stärker klopfen lassen, aber dieses eine fuhr viel langsamer als die anderen.
(oh)
Sie rannte ans Fenster, sie konnte sich einfach nicht zurückhalten, und er war es, Tommy, der gerade aus seinem Auto kletterte, und sogar unter der Straßenlampe sah er noch gut und ansehnlich und beinahe knusprig aus. Das komische Wort brachte sie zum Lachen.
Momma hatte aufgehört zu beten.
Sie nahm ihren leichten Seidenumhang vom Stuhl und legte ihn sich um die nackten Schultern. Sie biß sich auf die Lippen, berührte ihr Haar und hätte in diesem Augenblick ihre Seele für einen Spiegel verkauft. Die Glocke in der Halle schrillte.
Sie zwang sich zu warten, versuchte, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bringen. Da klingelte es zum zweitenmal. Auf wackeligen Beinen ging sie langsam zur Tür.
Sie öffnete die Tür, und da stand er, beinahe umwerfend in einem blendendweißen Dinnerjacket und schwarzen Hosen.
Sie sahen einander an, und keiner sagte ein Wort.
Sie spürte, daß ihr das Herz brechen würde, wenn er nur die
Andeutung eines falschen Tones herausbrachte. Und wenn er lachte, würde sie sterben. Sie spürte mit ihrem ganzen Körper wie sich ihr ganzes, elendes Leben auf diesen einen Punkt zuspitzte, der entweder ein Ende oder der Beginn eines weiten Bogens sein würde.
Schließlich sagte sie hilflos: »Gefalle ich dir?«
Er sagte: »Du bist wunderschön.«
Und das war sie.
Aus: Als der Schatten explodierte (S. 131):
»Während die Schüler, die zum Frühlingsball gingen,
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