Untitled
menschliches Wesen beseelt hat, dann bestimmt diesen Jungen im Flickenrock. Ich beneidete ihn fast um den Besitz dieser bescheidenen und klar leuchtenden Flamme. Sie schien alle Gedanken an ihn selbst so vollständig aufgezehrt zu haben, daß man, sogar wenn er mit einem sprach, vergaß, er selbst – der Mann, der da vor einem stand – sei es gewesen, der all dies durchgemacht. Um seine Ergebenheit für Kurtz beneidete ich ihn allerdings nicht. Er hatte nicht über sie nachgedacht. Sie war in ihm gewachsen, und er hatte sie mit einer Art von eiferndem Fatalismus hingenommen. Ich muß sagen, sie erschien mir in jeder Hinsicht als das Gefährlichste, das ihm bisher zugestoßen war.
Das Zusammentreffen der beiden war unvermeidlich gewesen, wie das zweier nicht weit voneinander in Windstille treibender Schiffe, und schließlich hatten sie Seite an Seite gelegen. Vermutlich brauchte Kurtz einen Zuhörer, denn bei einer bestimmten Gelegenheit, als sie im Walde lagerten, hatten sie die ganze Nacht hindurch miteinander geredet, oder – was wahrscheinlicher ist, hatte Kurtz geredet. ›Wir sprachen über alles‹, sagte er ganz hingerissen von der Erinnerung. ›Ich vergaß, daß es noch so etwas wie Schlaf gab. Die Nacht schien kaum eine Stunde zu währen. Über alles! Alles … Auch über die Liebe.‹
›Ah, er sprach zu Ihnen über Liebe!‹ sagte ich sehr belustigt. ›Ja, im allgemeinen. Er ließ mich Dinge sehen – Dinge!‹
Er warf beide Arme hoch. Wir waren inzwischen an Deck hinausgegangen, und der Häuptling meiner Holzfäller, der in der Nähe herumlungerte, richtete seine schweren und glitzernden Augen auf mich. Ich blickte mich um, und ich weiß nicht warum, doch ich versichere euch, nie, nie zuvor war mir dieses Land, dieser Fluß, dieser Dschungel, ja sogar das Gewölbe dieses flammenden Himmels so hoffnungslos und so finster vorgekommen, so undurchdringlich für menschliches Denken, so erbarmungslos gegen menschliche Schwäche. ›Und seitdem sind Sie natürlich immer bei ihm geblieben?‹ fragte ich.
Im Gegenteil. Anscheinend war ihre Gemeinschaft des öfteren durch die verschiedensten Ursachen unterbrochen worden. Ihm sei, wie er mir stolz mitteilte, verstattet gewesen, Kurtz während zweier Krankheiten zu pflegen (er spielte darauf an wie auf ein gefahrvolles Heldenstück), aber in der Regel sei Kurtz allein gewandert, in den Tiefen der Wälder. ›Sehr oft, wenn ich zu dieser Station kam, mußte ich tagelang warten, bis er auftauchte‹, sagte er. ›Ah, es lohnte sich, zu warten! – manchmal.‹
›Was hat er denn gemacht? Hat er das Land erforscht, oder was?‹ fragte ich. ›O ja, natürlich‹, er habe eine Menge Dörfer entdeckt, auch einen See – er wisse nicht genau in welcher Himmelsrichtung; es sei gefährlich gewesen, allzu viele Fragen zu stellen – doch meistens hätten seine Expeditionen dem Elfenbein gegolten. ›Aber er hatte doch längst keine Tauschwaren mehr‹, warf ich ein. ›Sogar jetzt sind noch eine stattliche Menge Patronen übrig‹, antwortete er und blickte fort. ›Um die Sache beim rechten Namen zu nennen, er plünderte also das Land aus‹, sagte ich. Er nickte. ›Doch bestimmt nicht allein!‹ Er murmelte etwas von den Dörfern und dem See. ›Kurtz brachte wohl den Stamm dazu, ihm Gefolgschaft zu leisten, wie?‹ riet ich. Er wurde ein wenig unruhig. ›Sie beteten ihn an‹, sagte er. Der Klang dieser Worte war so ungewöhnlich, daß ich ihn forschend ansah. Das Gemisch aus Bereitwilligkeit und Widerstreben, von Kurtz zu sprechen, war recht merkwürdig an ihm.
Der Mann füllte sein Leben aus, beschäftigte sein Denken, bewegte sein Gemüt. ›Was wollen Sie?‹ platzte er heraus; ›er kam mit Blitz und Donner zu ihnen, wissen Sie – und sie hatten nie etwas Ähnliches gesehen – und er war sehr fürchterlich. Er konnte sehr fürchterlich sein. Sie dürfen Herrn Kurtz nicht wie einen gewöhnlichen Menschen beurteilen. Nein, nein, nein! Sehen Sie – um Ihnen nur einen Begriff zu geben – ich scheue mich nicht, Ihnen zu sagen, daß er auch mich eines Tages niederschießen wollte –, aber ich verurteile ihn deshalb nicht.‹
›Sie niederschießen!‹ rief ich. ›Weshalb nur?‹
›Nun ja, ich hatte einen kleinen Vorrat an Elfenbein, den mir der Häuptling des Dorfes in der Nähe meines Hauses gegeben hatte. Wissen Sie, ich pflegte für sie zu jagen. Das wollte er also haben und war nicht zur Vernunft zu bringen. Er
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