Untitled
Sie machte die Tür einen Spalt weit auf und lugte hinaus. »Ich habe nicht viel Zeit. Eigentlich müsste ich mich jetzt au s ruhen. Sie haben mich in ein Zelt gebracht und … Sie sind doch die Amerikanerin, von der ich so viel gehört habe, oder?«
»Ich bin Amerikanerin«, erwiderte Gina. »Schon. Aber …«
Die Frau nahm sie bei den Händen. »Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte sie. »Meine Schwester Lucy wird in ein paar Wochen sechzehn. Und dann werden sie behaupten, dass sie einverstanden ist, und werden ihr das antun, was sie auch mir angetan haben.«
Oh Scheiße. »Aber das ist illegal«, sagte Gina und fühlte sich sofort wie eine dumme Kuh. So eine blöde Bemerkung: Natürlich war es illegal.
»Ja, nicht wahr?«, pflichtete das Mädchen ihr bei. »Aber versuchen Sie mal in einer Stadt wie Narok so etwas anz u zeigen. Dort hat mein Onkel eine Farm, und dort wohnt Lucy bis jetzt noch. Zurzeit ist sie bei mir zu Besuch, aber Mittwoch in einer Woche fährt sie mit meiner Tante wieder zurück. Sie sehen also, wir müssen schnell handeln.«
»Handeln?«, wiederholte Gina unsicher.
»Ich werde sie ablenken«, sagte das Mädchen. »Irgendwann im Lauf der nächsten Tage. Ich habe Lucy schon das wenige Geld gegeben, das ich habe, dazu noch ein bisschen Schmuck … Wir haben einen Freund oben in Marsabit, der ihr helfen will, nach London zu kommen. Wir haben ein Jahr lang in Großbritannien gelebt, bevor mein Vater gestorben ist. Wir haben Freunde dort, die sich um sie kümmern werden. Sie ist bereit dazu, Miss. Bitte sagen Sie mir, dass ich sie hierher schicken kann, zu Ihnen, dass Sie ihr helfen, nach Marsabit zu kommen.«
»Natürlich«, erwiderte Gina. Heilige Scheiße …
»Danke.« Das Mädchen fing an zu weinen. »Gott segne Sie. Eine Frau, die in der Küche meiner Schwiegermutter arbeitet, hat mir erzählt, dass Sie allen ihren sieben Kindern zur Flucht verholfen haben … dass Sie ein Engel sind, weil Sie für ihre Kinder solch ein Risiko eingegangen sind. Sie hat gesagt, dass manche Leute Sie vor lauter Wut am liebsten für immer verschwinden lassen würden, wenn Sie jemals einen Fuß außerhalb dieses Lagers setzen, aber dass Sie mir trot z dem helfen würden.«
Das war es also.
Das war der Grund, weshalb Molly – die einzige andere Amerikanerin hier im Lager – sich nie an einer Safari oder einem Ausflug ins kenianische Umland beteiligen wollte. Weil sie eine moderne Untergrundbahn für kenianische Mädchen betrieb und deshalb auf der Abschussliste stand.
»Geh zurück in dein Zelt«, sagte Gina und brachte sie zur Tür. »Ich suche Molly, okay? Sie ist diejenige, von der deine Freundin dir erzählt hat. Ich bin bloß ihre … Assistentin.« Zumindest war sie das von jetzt an. Sie sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war. »Sag Lucy, sie soll nach Molly oder Gina fragen, wenn sie hierher kommt, in Ordnung? Sag ihr, dass wir auf sie warten. Wir bringen sie sicher nach Marsabit.«
Mit einem Kopfnicken war das Mädchen – Mist, Gina hatte sie nicht nach ihrem Namen gefragt – verschwunden.
Kopfschüttelnd stand sie im Inneren des Zeltes und wartete. Sie wollte nicht direkt nach dem Mädchen ins Freie kommen, nur für den Fall, dass sie beobachtet wurde. Obwohl, falls sie wirklich beobachtet wurde, dann konnte sie bis zehn oder auch bis hundert zählen, es war sowieso egal. Dieses Zelt hatte keinen Hinterausgang. Wenn also zwei Menschen innerhalb weniger Minuten nacheinander herau s kamen, dann mussten sie auch gemeinsam da drin gewesen sein.
Wieso wartete sie also überhaupt?
Nur, weil die Spione im Film das auch immer machten. Und das war ein ziemlich dämlicher Grund.
Zugegeben, sie war die schlechteste Lügnerin der Welt. List und Tücke waren nicht ihre Stärke.
Molly hingegen war darin offensichtlich ein absolutes Ass.
Seit Monaten waren sie nun eng befreundet und Gina hatte keine Ahnung gehabt.
Welche Geheimnisse hatte ihre Mitbewohnerin noch vor ihr verborgen? Gina lugte zur Tür hinaus und – oh Kacke! Leslie Pollard, ein Handtuch über der Schulter, kam direkt auf das Zelt zu.
Anscheinend hatte er den heutigen Tag für seine mona t liche Waschung auserkoren.
Instinktiv wich sie zurück. Instinktiv duckte sie sich und versteckte sich in einer der abgetrennten Umkleidekabinen.
Ihre Instinkte taugten nichts. Im Rückblick – einem Rüc k blick, der nur wenige Sekunden hinter der Gegenwart he r hinkte und der ihr praktisch sofort nach ihrem Rückzug hinter
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