Untitled
fragte die alte Dame verwirrt und wies mit dem Zeigefinger auf den Vampir.
„Oh, meine Liebe, er hat Sie vor diesem Scheusal von Gespenst gerettet. Sie taten das einzig Vernünftige, indem Sie in Ohnmacht fielen. Mich allerdings hat Herr von Grauenstein unsanft aus Morpheus' Armen gerissen, damit ich mich um Sie kümmere. Er befürchtete, daß es Komplikationen hätte geben können, wenn Sie erwachen und nur er wäre anwesend."
Trotz seiner langatmigen Erklärung merkte man dem Geistlichen an, daß er sichtlich ungnädig über die erneute Ruhestörung war. Das Wachsein fiel ihm äußerst schwer.
„Ein wirklich reizender Mensch, unser Freund! Und so besorgt", wisperte Madame hingerissen. Ein dankbarer Blick traf den Vampir.
„Sagen Sie, mein Lieber! Wer war dieses Monstrum, und wodurch haben Sie von seinem Spuk erfahren?"
Aus unendlich tiefer Nachdenklichkeit herausgerissen, blieb der Vampir neben ihr stehen und schaute sie eine Weile stumm an.
„Dieses gräßliche Gespenst ist mein Großonkel Louis Arthur, Graf Grauer von Grauenstein, ostpreußischer Zweig. Er war der Bruder meines Großvaters väterlicherseits. Eigentlich immer schon ein Luftikus. Nirgendwo hielt es ihn für längere Zeit. Als Gespenst geistert er über den ganzen europäischen Kontinent. Auch mir war bis heute nicht bekannt, daß er wieder in unsere Gegend zurückgekehrt ist. Normalerweise verständigt mich meine Großtante, Amalie Gruselia Gräfin Grauenstein, über alle Familienangelegenheiten."
„Um des gütigen Himmels willen! Sie haben hier noch mehr Verwandtschaft?" flüsterte der Priester mit bleichen Lippen.
„Ja, Hochwürden! Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Sie derart beunruhigen muß, aber mir scheint, daß sich da drüben in der alten Ruine ein größeres Familientreffen anbahnt. Sie müssen wissen, alle 50 Jahre findet eine solche Zusammenkunft statt. Diesmal wohl wieder auf unserem Stammschloß. Das letzte hatten wir hier vor 150 Jahren."
„Ja, ja! Ich erinnere mich genau! In der Chronik unseres Dorfes ist für diesen Zeitpunkt die letzte größere Spukerei vermerkt. Von da an war endgültig Ruhe", erwiderte Hochwürden eifrig.
„Mit der Ruhe dürfte es vorerst einmal vorbei sein! Denn wenn meine werte Verwandtschaft für längere Zeit in der Ruine zu residieren gedenkt, dann können wir uns auf einiges gefaßt machen. Mir widerstrebt diese Angelegenheit von ganzem Herzen. Am besten wird sein, ich ziehe morgen nacht bei Tante Gruselia Erkundigungen ein. Diese alte Dame ist zwar äußerst bösartig, trotz allem aber überaus harmlos. Sie lebt seit Urgedenken völlig zurückgezogen. Das Geistern hat sie schon lange aufgegeben, da sie sich nur noch an Krücken vorwärts bewegen kann."
„Oh, die Arme", flüsterte Madame. „Mein vollstes Mitgefühl!"
Vor lauter Aufregung hatten die drei völlig übersehen, daß der Tag schon angebrochen war und die Sonne in ihrer ganzen Schönheit erstrahlte. Der Vampir erschrak zutiefst. Starker Druck hinter den Schläfen kündigte an, daß der Untote, sollte es ihm nicht gelingen, sofort in einen dunklen Raum zu kommen, mit einem jener entsetzlichen Migräneanfälle zu rechnen hatte, die er so unendlich haßte.
„Wie nur komme ich in meine Gruft?" flüsterte er mit ersterbender Stimme. Sein Gesicht wurde bleicher und bleicher. Kraftlos sackte er in einem Plüschsessel zusammen.
Der Priester und seine Nachbarin schauten ängstlich auf die eben noch so imponierende Gestalt, die jetzt immer mehr zu verfallen drohte.
„Hochwürden! Nun tun Sie doch etwas. Das ist ja nicht mitanzusehen", rief die alte Dame und stieß den Geistlichen wenig respektvoll in die Seite.
Nach aufregendem Hin und Her entschlossen sich die beiden, Herrn von Grauenstein im Keller von Madame Vanille unterzubringen. Ein Lager wurde provisorisch bereitet und mit einer weichen Decke und drei bunten Kissen etwas Gemütlichkeit gezaubert. Dankbar ließ sich der total ermattete Vampir vom Priester und der kleinen Dame die steile Treppe hinunterführen. Im Keller rollte er sich zusammen, liebevoll zugedeckt von der Hausherrin. Seine flachen, doch regelmäßigen Atemzüge ließen die beiden Retter erkennen, daß er in Tiefschlaf gefallen war.
„Was soll ich ihm zu essen geben, wenn er wieder erwacht, Hochwürden?" Madame fragte dies in einer Art und Weise, als hätte sie soeben ein seltenes Haustier erstanden, das sie aufzuziehen
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