Untitled
vorsichtig, hielt die Augen aber noch krampfhaft geschlossen.
Jäh fuhr der Doktor von seinem Stuhl hoch, den er sich fürsorglich neben die Couch gestellt hatte. Er wollte gerade den Blutdruck der vermeintlich Ohnmächtigen messen und machte sich sichtlich Sorgen um den Zustand der alten Dame.
„Jetzt behaupten Sie bloß nicht, daß das Ganze nur Theater war und es Ihnen überhaupt nicht schlecht geht", brummte er.
„I wo, Herr Doktor! Das war reine Taktik, um schneller an Sie heranzukommen. Ich habe nämlich ein furchtbares Problem."
„Also doch krank! Wo fehlt es denn?"
„Nichts Organisches. Nein, mir fehlt nichts."
„Ich verstehe Sie nicht. Wieso sind Sie dann hier?" Die Stimme des Arztes verriet unüberhörbar Ungeduld und Ärger. Schon wollte er aufstehen, als Madame Vanille ihn am Zipfel seines Kittels festhielt.
„Er ist bei mir! Herr von Grauenstein! Im Keller!"
„Wie?" Der Arzt schaute sein Gegenüber erstaunt an.
Rasch berichtete Madame über die gruseligen Geschehnisse in der letzten Nacht.
„Das ist ja entsetzlich, meine Liebe! Wie müssen Sie gelitten haben!"
„Gott sei Dank habe ich alles recht gut überstanden. Wir haben in Herrn von Grauenstein wirklich einen edlen Freund gefunden", erwiderte sie bescheiden.
„Wie vernünftig von Ihnen, unserem Freund das Lager im Keller zu richten", lobte der Arzt. „So dürfte er diesen Tag ohne nennenswerte Schwierigkeiten überstehen und kann, sobald die Dunkelheit hereinbricht, wieder zum Kirchhof zurückkehren!"
„Das ist ja gerade das Problem, Herr Doktor! Heute nachmittag kommen die Damen vom Kaffeekränzchen, und ich sagte schon zu Hochwürden, daß meine Freundinnen entsetzlich neugierig sind. Sie starten jedesmal förmlich eine Art Hausdurchsuchung. Und wenn sie dann unseren Freund entdecken ..."
„Nicht auszudenken. Das dürfte wirklich zu unliebsamen
Mißverständnissen führen. Aber, meine Verehrteste! Sie erwarten doch nicht etwa von mir einen verbindlichen Rat!" Der Arzt war entsetzt.
„Glauben Sie, ich hätte dieses ganze Theater hier vergeblich inszeniert! Wollen Sie mich hilflose alte Frau ihrem Schicksal überlassen?" Versagend klang ihre dünne Stimme durch den Wohnraum.
„Schon Hochwürden hat es vorgezogen, seine Dienstpflichten vorzuschieben. Herr Doktor, es gäbe eine Katastrophe, wenn jemand hinter unser Geheimnis käme. Es liegt schließlich an uns allen, wie diese spannende Geschichte weitergeht!"
Madame ereiferte sich zusehends. Ihr Seliger hätte sie niemals so schmählich allein gelassen.
„Alle Männer, mit Ausnahme meines Seligen, pflegen wohl sehr gerne zu kneifen", murmelte sie vor sich hin und stand auf. Erzürnt verließ sie das Arzthaus. Sie schaute nicht mehr zurück und nahm daher auch nicht den verschleierten Blick des Fräuleins wahr, das ihr noch lange hinterherschaute.
„Hab' ja immer gewußt, daß mein Brüderchen goldene Hände hat", schwärmte sie beseelt. Sie war der festen Überzeugung, daß nur die Kunst ihres Bruders die ohnmächtige Madame Vanille wieder zum Leben erweckt hatte.
„Was gibt es denn da zu glotzen?"
Die unerwartet harte Stimme ihres Bruders ließ sie auffahren.
„Gib mir lieber die Krankenblätter und ruf den nächsten Patienten auf! Aber ein bißchen plötzlich, ja?"
Die Schwester war so konsterniert über den unfreundlichen Ton, daß sie nur ein zaghaftes „Ich verstehe das nicht" hervorbrachte, was ihren Bruder jedoch nur noch unwirscher werden ließ.
„Was hast du schon jemals verstanden? Sieh dich doch an! Was ist denn aus dir geworden: 'ne unzufriedene alte Jungfer ... und?"
„Ja, aber", stotterte sie aufgebracht. „Ich habe das alles nur für dich getan. Alle Heiratsanträge habe ich deinetwegen ausgeschlagen!"
„Habe ich dich jemals darum gebeten?" erboste sich ihr Bruder. Er wandte sich um und wollte gerade das Zimmer verlassen, als ein Knall ihn zusammenschrecken ließ. Das Fräulein war aufgesprungen und hatte den Stapel Karteikarten, den sie gerade sorgfältig einzusortieren begonnen hatte, schwungvoll zu Boden geworfen.
„Ich gehe! Das habe ich nicht nötig", schluchzte sie hemmungslos und rannte hinaus.
In der gemeinsamen Wohnung angekommen, ließ sie sich in einen Sessel fallen und zündete sich gierig eine Zigarette an. Ihr Bruder hatte zwar stets etwas dagegen, daß sie rauchte, aber das interessierte sie in diesem Moment
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