Untitled
schmalen Rücken, doch trotz seiner Bemühungen bedurfte es einiger Zeit, bis sich Madame Vanille nach und nach beruhigte. Zitternd lehnte sie sich an die Schulter des Arztes und versuchte, der Erschöpfung Herr zu werden.
„Was einem doch auf seine alten Tage noch so alles passieren kann. Es ist nicht zu fassen", japste sie und tupfte sich die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. Die Herren schwiegen.
„Ich habe das Gefühl, daß ich durch mein Erscheinen die Herren bei einem wichtigen Thema unterbrochen habe?"
„Das kann man wohl meinen", ließ sich die unfreundliche Stimme des Geistlichen nach längerer Zeit wieder vernehmen. Er war immer noch sehr ungehalten über das absolut unnütze Erscheinen seiner Nachbarin und fest davon überzeugt, heute nacht nichts mehr über die Genealogie derer von Grauenstein zu erfahren. Der Vampir verlangte mit Recht Stillschweigen gegenüber jedem Dritten. Und man wußte ja nur zu gut, wie wenig Verlaß auf Frauen diesbezüglich war! Die Enttäuschung stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben.
„Lieber Herr von Grauenstein", begann die alte Dame unbeeindruckt, „bitte, eines kann ich so gar nicht verstehen. Sie sind ein so reizender Gastgeber und charmanter Zeitgenosse, und es will mir nicht in den Kopf, daß Sie unlängst diese grausigen Reime zitiert haben."
„Ach, Verehrteste! Sie meinen sicher diesen wechselhaften Tag, an dem ich Sie zu meinem größten Bedauern so erschreckt habe. Ich bitte Sie, meine Entschuldigung anzunehmen! Ja, an diesem Tag habe ich Lord Byron zitiert, dessen großer Verehrer ich bin. Sie müssen wissen, ich liebe alle Geschichten und Gedichte über Geister und Vampire. Und dieses nicht etwa aus einem wissenschaftlichen Drang heraus, o nein! Vielmehr kann man sich so herrlich gruseln!" Von Grauenstein lächelte verträumt.
Die drei Zuhörer merkten ihm an, daß er sich in diesem Augenblick keineswegs der Tatsache bewußt war, ebenfalls zu diesen untoten Wesen zu gehören. Vielmehr schwärmte er von Goethes Gedicht „Die Braut von Korinth". Er richtete sich auf, streckte sich dem Mond entgegen und ließ leidenschaftlich seine Stimme über den nächtlichen Kirchhof erschallen. Fasziniert hörten ihm die drei Besucher zu.
Liebe schließet fester sie zusammen, Tränen mischen sich in ihre Lust, Gierig saugt sich seines Mundes Flammen, Eins ist nur im andern sich bewußt. Seine Liebeswut Wärmt ihr starres Blut, Doch es schlägt kein Herz in ihrer Brust.
Hilfesuchend drängte sich die kleine Dame an den Doktor, der wie sie atemlos der Vorstellung gelauscht hatte. Es war schaurig und rührselig zugleich zu beobachten, wie sehr der Vampir gegen eine tiefe innere Rührung ankämpfen mußte. Als er geendet hatte, verbeugte er sich stumm und nahm seinen Platz wieder ein.
„Wunderbar! Wunderbar!" riefen alle begeistert und klatschten in die Hände, hielten aber sofort inne, als sie den nachdenklichen, traurigen Blick ihres Gastgebers bemerkten, den seine Gedanken scheinbar weit fortgetragen hatten. Leise erhoben sie sich. Behutsam klopften sie einige vermeintliche Staubkörnchen von ihren Kleidern. Zuvorkommend half der Arzt Madame Vanille, vom Grabstein herabzuklettern. Eine Weile standen die drei abwartend da und überlegten, ob sie den Vampir aus seinen tiefsinnigen Gedanken wecken sollten, als dieser plötzlich den Kopf hob und erstaunt um sich schaute.
„Es tut mir leid, daß ich Sie indirekt veranlaßt habe, an Aufbruch zu denken. Aber sobald ich Goethe rezitiere, werde ich in eine Art Trancezustand versetzt, aus dem ich nur schwer zurückfinden kann. Mir war ein ähnliches Schicksal beschieden. Die Zeit jedoch ist zu kurz, um jetzt noch mit meiner Erzählung zu beginnen. Machen Sie mir bitte die Freude und geben Sie mir Gelegenheit, Ihnen bei unserem nächsten Treffen meine Geschichte zu erzählen. Das erste Mal seit meinem Vampirdasein ist es mir ein wahres Bedürfnis, darüber zu sprechen. Ich habe Vertrauen zu Ihnen und schätze mich glücklich, Ihrer Freundenschaft sicher zu sein!"
Verstohlen rieb er sich die Augenwinkel. Madame Vanille kramte ihr Spitzentaschentuch hervor und trocknete verschämt ein paar Tränen. Hochwürden räusperte sich mehrmals, und der Doktor schneuzte sich lautstark.
Schweigend machte sich die kleine Schar auf ihren Heimweg. Hochwürden vergaß nicht, sein wichtigstes Utensil vom Nachbargrab mitzunehmen. Erleichtert, dadurch wieder „vollständig angezogen" zu
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