Untitled
überhaupt nicht. Sie verfiel in tiefsinniges Grübeln.
Heute morgen war er freundlich wie immer gewesen. Sein eigenartiges Benehmen mußte mit dem Auftauchen von Madame zusammenhängen. Nein, sie bedauerte wirklich nicht, daß sie die zwei Heiratsanträge, die sie vor langer, langer Zeit erhalten hatte, um ihres Bruders willen ausgeschlagen hatte. Dabei hatte sie erfolgreich verdrängt, daß die beiden Freier sich nach jeweils ein, zwei Wochen Bekanntschaft nicht mehr hatten blicken lassen. „Sicher waren es sowieso nur Heiratsschwindler", versuchte sie sich zu trösten.
Ihrem Bruder tat sie leid. Von der Natur war sie keineswegs reichlich bedacht. Sie hatte krumme Beine und lange, sehr dünne Füße, was ihrem Gang nur wenig Grazie verlieh. Auch ihre Figur war mehr als plump. Ihre weiblichen Rundungen verbarg sie züchtig unter weiten altmodischen Kleidern. Ein freundliches Wesen war ihr von frühester Kindheit an nicht gegeben. Die Mundwinkel waren stets heruntergezogen. Wer sie nicht kannte, würde wohl kaum wagen, sie für charmant zu halten.
Was die Haushaltung anging, so konnte sich der gute Doktor nicht beschweren, und als Hilfe in der Praxis war seine Schwester wirklich ausgezeichnet. Auch wenn sie bei den Patienten nicht gerade beliebt war, so wurde sie wegen ihrer unübertroffenen Tüchtigkeit respektiert und geachtet. Was sie tat, war stets korrekt. Vielleicht zu korrekt! Mit zittrigen Fingern zündete sie sich die dritte Zigarette an. Dabei versuchte sie, Ordnung in ihre aufgewühlte Gedankenwelt zu bringen.
„Was hat bloß die alte Dame mit meinem Bruder vor?" bohrte es eifersüchtig in ihr. „Und dann die Geheimnistuerei! Sie scheint zwar einige Jahre älter zu sein als er, aber das muß nicht ungedingt ein Hinderungsgrund für eine eventuelle Verbindung sein. Wenn sich das allerdings bestätigen sollte", führte sie ihre zermürbenden Gedankengänge fort, „dann werde ich mich hiermit in aller Form zum Hinderungsgrund Nummer eins erklären. Mein Bruder soll sich keine Sekunde mehr unbeobachtet fühlen."
Wie bei vielen unzufriedenen Leuten machte sich in ihr ein masochistischwohliges Gefühl breit. Es war die Art von Befriedigung, die sie ganz für sich allein genoß. Dumpf vor sich hinbrütend, verfiel sie in angenehmes Selbstmitleid.
Als der Doktor müde von einem wie immer sehr anstrengenden Vormittag in die Wohnung kam und ein schmackhaftes Mittagessen erwartete, sah er sich maßlos enttäuscht. Der Tisch war nicht gedeckt, und von seiner Schwester, nach der er mehrmals laut rief, fehlte jede Spur.
„Sollte ich doch ein wenig ungerecht gewesen sein", seufzte er stirnrunzelnd. „Aber andererseits! Himmel noch mal! Ich habe in letzter Zeit wirklich viel zuviel um die Ohren", schimpfte er lautstark. „Herrgott! Sie soll sich nicht so haben! Sicher, ich hab' mich vielleicht im Ton vergriffen, aber ihr ewig leidender Gesichtsausdruck geht mir auch auf die Nerven." Er dachte nach. „Na ja", lenkte er schließlich vor sich selber ein, „ich werde sie heute abend zum Essen ausführen. Sicher kann ich sie damit wieder versöhnlicher stimmen. Ein neues Kleid dürfte das übrige tun."
Vor sich hinpfeifend marschierte er in die Küche. Im Kühlschank hoffte er etwas Eßbares zu finden, bevor er sich zu seinen Hausbesuchen auf den Weg machte. Erwartungsvoll öffnete er die Tür, doch nichts als gähnende Leere!
„Zum Kuckuck! So weit hätte sie es wirklich nicht treiben dür fen!" Das neue Kleid, verbunden mit einem guten Essen, wurde rigoros gestrichen. Verbittert knallte er die Haustür hinter sich zu, um mit laut knurrendem Magen seinen ärztlichen Pflichten nachzukommen.
VI.
Es hatte zu nieseln begonnen. Graue, zerfledderte Wolken wurden von einzelnen Windböen über den Himmel gejagt. Der Arzt hatte Mühe, daß sein kleines Auto nicht von der Fahrbahn abkam. Seine Stimmung war auf den Nullpunkt gesunken. Er war schon fast am anderen Ende des Dorfes angelangt, als er seinen Wagen abrupt wendete, um kurze Zeit später vor dem Haus der alten Dame zu halten, dessen gemütliche Atmosphäre sein Stimmungsbarometer um etliche Grade steigen ließ. Angenehme Düfte von Rum und Vanille schwebten ihm entgegen, als er die drei Stufen zur Haustür hinaufstieg. Die Vision einer köstlichen Torte ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er klingelte.
Hastige Schritte näherten sich der Tür. Madame in ihrer unvermeidlichen frisch gestärkten, weißen
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