Untitled
Goldberg nicht zulassen. Sie würde keine Schuldgefühle empfinden, und wenn sie aus den Nähten platzte …
Die beiden Kinder waren entführt worden, als sie für sie zuständig gewesen war. So hatte alles angefangen … Schluß mit den Bildern! Für einen Augenblick Schluß mit allem.
Irene Flanagan hustete im Schlaf. Jezzies Mutter hatte neununddreißig Jahre für eine Telefongesellschaft gearbeitet. Ihr gehörte die Wohnung in Crystal City. Sie war eine phantastische Bridgespielerin. Das war alles Wissenswerte über Irene.
Jezzies Vater war siebenundzwanzig Jahre lang Cop in D.C. gewesen. Das Endspiel kam für Terry Flanagan bei seiner geliebten Arbeit – ein Herzinfarkt auf einem überfüllten Bahnhof –, während Hunderte von Wildfremden ihm beim Sterben zuschauten, ohne echten Anteil zu nehmen. Jedenfalls erzählte Jezzie die Geschichte immer so.
Jezzie beschloß wieder, zum tausendsten Mal, daß sie aus der Wohnung ihrer Mutter ausziehen mußte. Ganz gleich, was passierte. Keine lahmen Ausreden mehr. Setz dich in Bewegung, Mädchen, sonst hast du alles verloren. Beweg dich, beweg dich, komm mit deinem Leben voran.
Sie hatte jedes Gefühl dafür verloren, wie lange sie schon unter der Dusche stand, die leere Bierflasche an der Flanke, und das kühle Glas gegen ihren Schenkel rieb. »Süchtig nach Verzweiflung«, murmelte sie vor sich hin. »Das ist wirklich kläglich.« Jedenfalls war sie so lange unter der Dusche gewesen, daß sie das Smithwich ausgetrunken und Durst auf noch eins bekommen hatte. Durst auf irgendwas.
Eine Weile gelang es ihr, nicht an den kleinen Goldberg zu denken. Aber nicht ganz. Wie hätte sie das gekonnt? Der kleine Michael Goldberg.
Jezzie Flanagan hatte jedoch in den letzten Jahren Übung im Vergessen bekommen – wich dem Schmerz um jeden Preis aus. Es war blöd, Schmerzen zu haben, wenn man es vermeiden konnte.
Natürlich hieß das auch, engen Beziehungen auszuweichen, selbst der entferntesten Ähnlichkeit mit Liebe aus dem Weg zu gehen, die meisten Emotionen innerhalb der menschlichen Bandbreite zu kappen. Schön. Vielleicht war das ein akzeptabler Tauschhandel. Sie hatte herausgefunden, daß sie ohne Liebe in ihrem Leben überleben konnte. Es klang schrecklich, war aber die Wahrheit.
Ja, im Augenblick, vor allem im gegenwärtigen Augenblick, lohnte sich der Tauschhandel, dachte Jezzie. Er half ihr dabei, während der Krise jeden Tag, jede Nacht zu überstehen. Jedenfalls schaffte sie alles. Die anderen Agenten beim Secret Service sagten, sie habe cojones . Das war als Kompliment gemeint, und deshalb faßte Jezzie es auch so auf. Außerdem stimmte es nicht ganz – sie hatte cojones aus Stahl. Und wenn das nicht der Fall war, konnte sie das vortäuschen.
Um ein Uhr morgens mußte Jezzie Flanagan unbedingt eine Motorradfahrt machen; sie mußte aus der erstickenden, winzigen Wohnung in Arlington herauskommen.
Mußte, mußte, mußte.
Ihre Mutter hatte wohl gehört, wie die Tür zum Flur aufging. Sie rief aus dem Schlafzimmer nach Jezzie, vermutlich im Halbschlaf.
»Jezzie, wo willst du so spät noch hin? Jezzie? Jezzie, bist du das?«
»Bloß noch mal raus, Mutter.« Will in der Ladenpassage Weihnachtseinkäufe machen, hallte zynisch in ihrem Kopf. Wie immer ließ sie den Satz nicht heraus. Sie wünschte sich, Weihnachten wäre vorbei. Ihr graute vor dem nächsten Tag.
Dann war sie auf ihrer BMW-K-1 in der Nacht verschwunden – floh entweder vor ihren Alpträumen, ihren Teufeln, oder jagte ihnen nach.
Es war Weihnachten. War Michael Goldberg für unsere Sünden gestorben? Ging es darum? Sie dachte nach.
Sie wehrte sich dagegen, das ganze Schuldgefühl zu spüren. Es war Weihnachten, und Christus war schon für die Sünden aller gestorben. Auch für Jezzie Flanagans Sünden. Sie fühlte sich leicht verrückt. Nein, sie fühlte sich völlig verrückt, aber sie hatte alles im Griff. Immer alles im Griff behalten. Das würde sie von nun an tun.
Sie sang »Winter Wonderland« – bei hundertachtzig Stundenkilometern auf der offenen Schnellstraße aus Washington heraus. Ihr machte nicht viel angst, aber dieses Mal hatte sie Angst.
19. Kapitel
In manchen Teilen Washingtons und in den Vororten von Maryland und Virginia wurden am Weihnachtsmorgen Nachforschungen von Tür zu Tür angestellt. Durch die Innenstadt fuhren blauweiße Streifenwagen. Sie sendeten über die Lautsprecher: »Wir suchen nach Maggie Rose Dunne. Maggie ist neun Jahre alt. Maggie hat langes
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