Untot in Dallas
Böses geschehen konnte und hatte Böses getan, das stand ebenso fest wie die Tatsache, daß Godfrey Böses getan hatte.
„Wie lange werden Sie die beiden hierbehalten?“ fragte ich.
Stan zuckte die Achseln. „Drei Monate, vielleicht vier. Hugo bekommt zu essen. Isabel nicht.“
„Was dann?“
„Dann lösen wir seine Ketten. Er bekommt einen Tag Vorsprung.“
Bills Hand schloß sich um mein Handgelenk. Er wollte nicht, daß ich weitere Fragen stellte.
Isabel sah mich an und nickte. Sie schien mir vermitteln zu wollen, daß sie die Regelung als gerecht empfand. „Na denn!“ sagte ich und streckte beide Handflächen vor, um zu signalisieren, daß ich die Diskussion nicht fortsetzen wollte. „In Ordnung.“ Daraufhin drehte ich mich um, um langsam und vorsichtig die Treppe wieder hinunterzuklettern.
Wahrscheinlich hatte ich gerade einen Teil meiner Reinheit und Unschuld aufgegeben, aber ich konnte beim besten Willen nicht erkennen, wie ich mich anders hätte verhalten sollen. Je mehr ich über die Sache nachdachte, desto stärker verwirrte sie mich. Ich bin es nicht gewohnt, moralische Fragen dieser Art bis zum Ende zu durchdenken. Entweder etwas ist schlecht, dann ist es auch schlecht, es zu tun, oder es ist nicht schlecht und es ist in Ordnung, es zu tun.
Gut, auch für mich gab es da Grauzonen! Darunter fiel einiges: daß ich mit Bill schlief zum Beispiel, obwohl wir nicht verheiratet waren. Oder wenn ich Arlene sagte, ihr Kleid sei schön, wenn sie in Wirklichkeit darin ganz schrecklich aussah. Was die Sache mit Bill und heiraten betraf: Wir konnten gar nicht heiraten, es war illegal. Andererseits war es ja nun auch nicht so, als hätte er mich gefragt ...
Meine Gedanken zogen leicht zittrige Kreise um das unglückselige Pärchen in dem Zimmer da oben. Isabel tat mir wesentlich stärker leid als Hugo, was mich wunderte. Aber dann mußte ich mir sagen, daß Hugo aktiv begangener böser Taten schuldig war, während Isabel sich nur Nachlässigkeit hatte zuschulden kommen lassen.
Danach bekam ich reichlich Zeit, endlos allen möglichen Gedankengängen nachzuhängen, die allesamt in einer Sackgasse endeten. Bill amüsierte sich nämlich prima auf dieser Party. An einem gemischten Fest - bei dem sowohl Vampire als auch Menschen anwesend waren - hatte ich bisher erst ein- oder zweimal teilgenommen. Selbst jetzt, wo doch Vampire seit zwei Jahren legal waren, fühlte sich eine solch gemischte Gesellschaft irgendwie bedrohlich an. Offenes Trinken - Blutsaugen am Menschen - war streng verboten, und ich kann Ihnen versichern, daß man sich im Hauptquartier der Vampire von Dallas strikt an das entsprechende Gesetz hielt. Von Zeit zu Zeit bekam ich mit, daß ein Pärchen eine Weile nach oben verschwand, doch der jeweilige menschliche Teil erfreute sich bei der Rückkehr stets bester Gesundheit. Ich weiß das, denn ich habe mir das alles genau angesehen und mitgezählt.
Bill hatte jetzt so viele Monate lang ein bürgerliches Leben unter Menschen geführt, daß es für ihn offenbar ein richtiges Fest war, wieder einmal mit anderen Vampiren zusammensein zu dürfen. Ununterbrochen fand ich ihn in die Unterhaltung mit diesem oder jenem Vampir vertieft; es ging vielleicht um wehmütige Erinnerungen an das Chicago der 20er Jahre oder um Investitionsmöglichkeiten bei rein von Vampiren kontrollierten Firmen irgendwo auf unserem Globus. Ich fühlte mich derart angeschlagen, daß es mir völlig reichte, auf einer weichen Couch zu sitzen, dem Treiben um mich her zuzusehen und von Zeit zu Zeit an meinem Screwdriver zu nippen. Am Tresen bediente ein sehr netter junger Mann, mit dem ich mich ein Weilchen über Bars unterhielt. Eigentlich hätte ich meinen Urlaub vom Kellnern ja genießen sollen, aber ich mußte feststellen, daß ich mich nur zu gern in meine Uniform geschmissen und ein paar Bestellungen aufgenommen hätte. Ich war nicht daran gewöhnt, die Routine meines Alltags zu sehr zu unterbrechen.
Irgendwann ließ sich eine Frau neben mich auf das Sofa plumpsen, die ein wenig jünger sein mochte als ich selbst. Wie sich herausstellte, war sie mit dem Vampir zusammen, der hier den Unteroffizier vom Dienst gab, mit Joseph Velasquez also, der die Nacht zuvor mit Bill zusammen in die Zentrale der Bruderschaft geeilt war. Die junge Frau hieß Trudi Pfeiffer. Sie hatte tiefrote Strähnchen im Haar, Piercings in Zunge und Nase und war recht makaber geschminkt: Unter anderem trug sie schwarzen Lippenstift. Stolz teilte sie
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